: Die Schatten der Vergangenheit
von CHRISTOPH RASCH
Abseits des weitläufigen Geländes der „Klinička Bolnica“ suchen drei junge Männer, Mittdreißiger mit kurzen Haaren und Stoppelbart, vor der Mittagssonne Schutz. Die psychiatrische Abteilung des alten Mostarer Krankenhaus im kroatischen Ostteil der Stadt liegt direkt an der grauen Klinikmauer, hinter der man die Fähnchen an den Antennen der SFOR-Geländewagen hin- und hersausen sieht – nur ein paar Schritte vom Hotel „Ero“, dem Sitz der internationalen Stadtverwaltung entfernt. Die jungen Männer schauen stoisch ins Nichts, während ein Hubschrauber über den tiefblauen Himmel knattert. Sie sind kriegstraumatisiert.
Das aufmunternde Zunicken von Dunja Puvaca erwidern sie mit einem kurzen Blick. Energisch marschiert die massige Frau im knielangen Weißkittel weiter. „Das ist eine Volkskrankheit“, sagt sie. „Es wird Zeit, dass sich unser Staat endlich angemessen darum kümmert.“
Psychologie war lange unpopulär
Dunja Puvaca ist Sozialarbeiterin in der vom Bürgerkrieg verbrannten Hauptstadt der Herzegowina. In ihrem Büro sind die eingerahmten Diplome der einzige Wandschmuck – daneben ein Foto. „Meine Schwester“, sagt sie stolz, „studiert Psychologie. Das war vor dem Krieg nicht gerade populär, aber wir brauchen jetzt dringend gute Leute.“
Dunja Puvaca arbeitet seit 27 Jahren mit psychisch gestörten Menschen: „Es war für die Leute hier immer beschämend, als psychisch krank zu gelten, da kam kaum einer freiwillig zur Therapie.“ Der Krieg hat das geändert: „Heute sind die Menschen offener“, sagt sie.
Die Bearbeitung der psychischen Kriegsfolgen ist noch immer ihre Hauptaufgabe. Doch die Kriegstraumata werden inzwischen von den sozialen Härten des Alltags überlagert – und verstärkt. Ein „sekundäres“ Trauma entsteht, weil die Kranken – oftmals ohne Job – es nicht schaffen, sich in das Leben einzugliedern. Traumatisierte, die sich um eine Arbeit bemühen, würden vielfach sofort wieder weggeschickt: „Das belastet doppelt.“
Puvaca, ein Arzt und ein Psychiater versorgen derzeit 150 Patienten. Seit dem Krieg können von den ehemals 270 Betten der Abteilung nur noch 72 genutzt werden – staatliches Geld für den Wiederaufbau gibt es nicht. Die Kriegsschäden machen dem Krankenhausbetrieb zu schaffen: technische Defekte, marode sanitäre Anlagen. Es fehlt an medizinischen Gebrauchsmaterialien wie Verbänden und Einwegspritzen ebenso wie an diversen Psychopharmaka. Die Selbstdiagnose der Ärzteschaft der „Klinička Bolnica“ fällt nüchtern aus: „Unseren Versorgungsauftrag können wir nicht ausreichend erfüllen.“
Bislang gab es nicht einmal eine flächendeckende ambulante Versorgung für die Traumatisierten – die umliegenden Dörfer sind weiße Flecken auf der Landkarte der Sozialarbeiter.
Das soll sich ändern. Stolz steht Dunja Puvaca vor dem weißen Fiat Uno, gestiftet von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Auf den Türen steht in schwarzen Lettern „Autos für die häusliche Betreuung“ über dem Namen des Spenders.
„Ohne häusliche Nachsorge macht unsere Arbeit einfach keinen Sinn“, sagt Puvaca. Denn die meisten ihrer erwachsenen Schützlinge brechen die Therapie vor Behandlungsende ab, kaum einer bleibt länger als einen Monat. Das Fernziel: „Irgendwann soll die gesamte Behandlung zu Hause absolviert werden.“
Das Einzugsgebiet der Klinik umfasst beinahe die ganze Region Herzegowina mit 450.000 Einwohnern. Jeder Dritte leidet unter dem posttraumatischen Stresssyndrom (PTSS), 70 Prozent der Kinder sind kriegstraumatisiert.
Puvaca hat ein psychologisches Training bei einer schwedischen Hilfsorganisation absolviert. Die Therapeuten in Bosnien-Herzegowina bilden sich ständig fort und organisieren sich untereinander. Im Mai traf sie sich mit Kollegen aus Bosnien-Herzegowina und der Republika Srpska in Berlin. Puvaca benannte damals ein Hauptproblem der Traumatisierten: „Ein großer Teil von ihnen lebt nicht mehr in ihren Heimatorten.“ Die Menschen seien mehrfach entwurzelt – keine Heimat, kein Selbstwertgefühl, kein Job.
Eigenes Geld verdienen hilft
Endlich mit eigener Arbeit eigenes Geld zu verdienen „wäre bei vielen der erste Schritt, diesen Teufelskreis zu durchbrechen“, sagt Puvaca. Ihre Abteilung will dabei helfen. Ein halbes Dutzend Nähmaschinen hat sie angeschafft. Hier sollen die Patienten in Zukunft für ein paar Mark Wäsche zusammenflicken, vor allem Bettzeug für die Klinik. Das müsse noch subventioniert werden, sagt sie, „denn wirtschaftlich rechnen wird sich das nicht.“ Noch fehlt das Geld, um die elektrischen Nadeln überhaupt in Gang zu setzen. „Wann wir mit diesem Projekt anfangen können, weiß hier noch niemand“, sagt Puvaca. „Aber“, sagt sie, „Geduld ist schließlich das erste, was man als Sozialarbeiterin lernt.“
Louise Lang sitzt jeden Tag inmitten von Trommeln, Gitarren und Xylophonen und fühlt sich manchmal wie eine Dirigentin. Der Raum, in dessen Mitte die 35-Jährige barfuß und im Schneidersitz „ihren“ Kindern zuhört, war vor drei Jahren noch Teil einer zusammengeschossenen Ruine im bosnischen Teil Mostars. Inzwischen ist das hellgelb getünchte „Pavarotti Music Center“ im kulturellen Leben der Stadt an der Neretva ein feste Größe. Wie auch ihr Therapieangebot. Die drei hauptamtlichen Therapeuten arbeiten mit rund 80 Kindern. Die Jüngsten sind gerade 18 Monate alt, die Ältesten 25 Jahre. „Warchild“ heißt die Organisation, die die Arbeit finanziert. Inzwischen kommen die Kriegskinder aus beiden Teilen der Stadt.
Louise Lang ist seit zwei Jahren in Mostar. Die Engländerin kann auf einen Dolmetscher verzichten. Sie hat nicht nur die Sprache gelernt, sondern auch das Vertrauen der Kinder gewonnen. Mit sechs von ihnen sitzt sie auf bunten Matten im Musikzimmer, lässt sie frei auf den Instrumenten improvisieren. Sie setzt auf die Wirkung der kindlichen Gruppendynamik. Die Älteren, die den Krieg in Bunkern erlebten und Verwandte und Freunde sterben sahen, „haben die entscheidende mentale Phase der Kindheit schlicht verpasst“, sagt Lang. „Wir wollen sie dahin zurückführen.“ Die Therapeutin gibt keine Anweisungen, denn die Kinder sollen die Sitzungen „leiten“. Stattdessen antwortet sie auf ihre Musik, mit einer Geste, einer Anregung, einer Frage.
„Djevojka sokolu zulum Ucinila“ – ein bosnisches Volkslied dringt durch das Fenster. Einige Mitarbeiter des Centers, das auch eine Musikschule und freie Workshops beherbergt, musizieren spontan im Atrium der Anlage. Im Dezember 1997 öffnete das Music Center, gesponsert vom italienischen Tenor Luciano Pavarotti. Der „Maestro“ selbst hat bei der Eröffnung an einer Wand seine breiten Handabdrücke in bunter Farbe hinterlassen.Wer am Konzertflügel daneben und dem Plakat mit der Friedenstaube vorbeigeht, gelangt in die „beruhigte Zone“ der Kreativ-Therapie.
Auch hier wird es bunt, an den Wänden hängen Kinderzeichnungen, die vom Krieg erzählen. Reden können die Kinder, mit denen Louise Lang arbeitet, nicht über ihre Erlebnisse. Die Musik soll ihnen helfen, traumatische Kriegserlebnisse auszudrücken.
Das war für die Londonerin Pionierarbeit. Denn eine Musiktherapie gab es hier vor dem Krieg nicht. „Wir sehen uns deshalb nicht als humanitäres Hilfsprojekt“, sagt sie, „sondern wollen als Langzeitprojekt in die Gesellschaft hineinwachsen.“ Das scheint zu funktionieren. Anfangs waren die Eltern der kleinen Klienten skeptisch und die Zweifel der staatlichen Stellen groß. Inzwischen gibt sogar Wartelisten.
Der Nachfrage ist das Zentrum kaum noch gewachsen – das haben die meisten bosnischen Therapie-Zentren gemeinsam. Therapiearbeit ist teuer, sie verbraucht rund ein Viertel des derzeitigen Budgets des Pavarotti-Centers. Das ambitionierte Konzept soll einmal in einheimische Hand übergehen – ein Prozess, den viele Projekte schon vollzogen haben. Aber bis dahin ist es für Louise Lang „noch ein sehr weiter Weg“.
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