berliner synästhesie: Von Hausbesetzern und anderen ordentlichen Menschen: Egon Henk geht durch die Mainzer Straße
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„Ich bin 1973 in den Friedrichshain gezogen, als ich angefangen habe, an der Humboldt-Universität Jura zu studieren. Bei der Deutschen Zentralbücherei für Blinde gab es damals ein paar grundlegende Gesetzbücher, und man fing an, ausgewählte Gesetze aus dem Gesetzesblatt in Blindenschrift zu veröffentlichen. Die meiste Literatur musste ich allerdings zusammen mit meinen Kommilitonen erarbeiten, das heißt, jemanden bitten, sie mir vorzulesen.
Der Friedrichshain ist ja ein ziemlich geometrisch wirkender Bezirk, in dem ich mich als Blinder gut orientieren kann. Ich habe hier zunächst vier Jahre lang im Studentenwohnheim am Mehringplatz gewohnt. Nach meinem Studium habe ich dann in der Lokalverwaltung im Bereich Gesundheit und Soziales gearbeitet, gewohnt habe ich damals zunächst in der Nähe des Straußberger Platzes. Heute lebe ich direkt an der Karl-Marx-Allee.
Mit der Mainzer Straße hatte ich früher vorwegend dienstlich zu tun. Ich war unter anderem mit Wohnungsangelegenheiten beschäftigt – vorwiegend mit „blockiertem Wohnraum“, wie wir damals sagten. Man musste zu DDR-Zeiten ja für eine Wohnung eine staatliche Zuweisung haben, und die Mainzer Straße bot aufgrund ihres damaligen Zustands – verrottet, vernachlässigt – vielen Leuten die Möglichkeit, einfach mal auf ungesetzliche Weise einzuziehen.
Die intensivsten Sinneseindrücke, die ich vom Friedrichshain habe, sind Krach und Gestank, das muss ich mal so sagen – meine Dienstelle, das Bezirksamt, ist ja auch direkt am Frankfurter Tor untergebracht. In der Mainzer Straße dagegen ist es ruhig. Es gibt dort nicht dieses Gewusel von Passanten wie auf der Karl-Marx-Allee und der Frankfurter Allee. Man kann mit dem Langstock auch mal ein paar Meter entspannt laufen und auch der Gehweg ist inzwischen ordentlich angelegt worden.
Als erstes riecht man natürlich den Burger King an der oberen Ecke der Mainzer Straße, später dann den Teeladen, der sein besonderes Aroma bis auf die Straße verströmt. Ich bin leidenschaftlicher Teetrinker und zunehmend auch Marmeladenesser, und die Teehändlerin im „Teekränzchen“ hat ein sehr breites Angebot verschiedener Tees und selbstgemachter Konfitüren.
Mit der Mainzer Straße verbindet sich ja auch das, was dort in den frühen 90er Jahren abgelaufen ist – die wüsten Attacken der Hausbesetzer, die Schlachten, die fast den Eindruck von Klein-Beirut vermittelt haben. Bei den Gesprächen im Teeladen bekomme ich allerdings mit, dass inzwischen eher ,ein sortiertes Klientel‘, wie die Verkäuferin sagt, eingezogen ist.
Früher haben in der Mainzer Straße eben sehr viele Hausbesetzer gewohnt, militante Typen, Obdachlose, Leute, bei denen man ja meist schon gerochen hat, wer sie sind. Heute kann natürlich nur herziehen, wer sich die Miete auch leisten kann. Das sind vom Äußeren her dann so genannte ordentliche Typen. Die riechen nach sauberen Klamotten, nach Eau de Toilette oder auch nach gar nichts. Ordentliche Menschen riechen oft nach gar nichts.“
aufgezeichnet von
KOLJA MENSING
Egon Henk, 47 Jahre, arbeitet als Gruppenleiter im Sozialamt Friedrichshain. Er ist blind.
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