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„Empathie fördern“

Interview EDITH KRESTA

taz: Sie haben in einer vergleichenden Untersuchung von 0st und West unter anderem 2.000 Jugendliche in Rostock befragt: zu ihrer rechtsradikalen Orientierung, zu Gewaltbereitschaft, Gewalthandlungen und persönlichen Gewalterfahrungen in der Familie. Was ergab die Befragung?

Christian Pfeiffer: Etwa jeder achte Jugendliche in Rostock outet sich selbst als rechtsradikal. Im Vergleich dazu eine westdeutsche Stadt, Delmenhorst: Da war es nur jeder zwanzigste Jugendliche. Zum zweiten fiel auf, dass es in Ostdeutschland eine sehr viel höhere Quote von Sympathisanten gibt als in Westdeutschland. Drittens fiel auf, dass die Rechtsradikalen in Rostock in hohem Maße gewaltbereit waren, auch in anderen Konfliktsituationen. Viertens zeigte sich, dass sie sich viel frustrierter als westdeutsche Vergleichsjugendliche über das Freizeitangebot, das ihnen in ihren Stadtteilen zur Verfügung steht, äußerten. Sie sind viel seltener Mitglieder in irgendwelchen Sportvereinen oder Jugendgruppen. Der Eindruck besteht, dass auch die Langeweile, das Defizit an Angeboten, eine Rolle dabei spielt, dass sie sich rechtsradikal bekennen und Anschluss an solche Gruppen suchen.

Rechtsradikalismus als Spaßfaktor?

Ja, auch. Aber ganz wichtig: Die jungen Rostocker generell, egal ob rechts oder nicht, hatten keine Alltagskontakte mit gleichaltrigen jungen Ausländern. Ganz anders im Westen. Im Osten fehlt die Normalität im Umgang mit Ausländern. Was Rechtsradikale aber eindeutig auszeichnet: Sie sind zu Hause mit wesentlich weniger liebevoller Zuwendung und mehr autoritärer Elterngewalt erzogen worden.

Gibt es da einen Unterschied zwischen Ost und West?

Wir haben im Osten schon bei früherer Gelegenheit feststellen müssen, dass die Zuwendungsintensität etwas schwächer ausgeprägt war und Prügel häufiger.

Wer nie Empathie erfahren hat, kann auch keine Empathie weitergeben?

Genau so ist es. Man kann es in einem Satz zusammenfassen: Gewaltfreie Erziehung fördert den aufrechten Gang, und liebevolle Erziehung fördert die Empathie. Die Vorgeschichte des Rechtsradikalismus ist gekennzeichnet von sehr viel Frustration, wenig Zuwendung, viel Schlägen, viel autoritärem Gehabe.

Zivilcourage hat also ihre Bedingungen in der Erziehung?

Zivilcourage lässt sich nicht herbeibeten oder herbeischreiben. Sie erwächst aus Rahmenbedingungen in der Gegenwart und in der Erziehung. Generell gilt: Menschen, die selbstbewusst sind, die Selbstwertgefühl haben, die mit Zuversicht ihr eigenes Leben in den Griff bekommen, die haben die Stabilität zu sagen, hier schaue ich nicht weg, hier gehe ich Risiken ein.

Hatte die DDR das historische Pech, dass es dort eine längere Phase der Demokratie wie im Westen nicht gegeben hat?

Ja. Zivilgesellschaft und Gegenkultur sind von daher schwächer ausgeprägt als im Westen. Im Osten bestehen aber auch gravierende Defizite in der Lebenswelt der Jugendlichen, Defizite an Erfahrung, an Unterstützung, an positiver sozialer Vernetzung. Ein sehr klares Forschungsergebnis war, dass die jungen Ostdeutschen weniger Selbstvertrauen und mehr Ängste haben, und gerade bei den Rechten war das besonders ausgeprägt. Diese Verunsicherung, die bei ostdeutschen Jugendlichen sehr ausgeprägt ist, verlangt nach Antworten, die mehr sind als das, was die Politik gerade predigt: mehr Härte, mehr Repression, mehr Verbote, mehr Kontrolle. Wir haben – von wenigen Ausnahmen abgesehen, kein Vollzugsdefizit unserer Gesetze mehr.

Was brauchen wir dann gegen Ausländerhass?

Vor allem fehlt es im Osten an alltäglichen Chancen, Ausländer zu erfahren. Wenn schon die Ausländer nicht in den Osten ziehen wollen, aus begreiflichen Gründen, dann meine ich, muss die Folgerung lauten, jungen Menschen aus dem Osten Ausland-Erfahrungen zu ermöglichen.

Zwei Wochen all inclusive mit der TUI in die Türkei?

Nein. Eine Gruppe Rechtsradikaler für zwei Wochen in die Türkei zu schicken, ist völliger Unsinn. Diese Gruppe bleibt fest geschlossen und gibt ihre Vorurteilsstrukturen in keinster Weise auf. Was ich meine, ist Leuten die Möglichkeit zu eröffnen, dass sie während der Schulzeit für ein ganzes oder halbes Jahr im Ausland zur Schule gehen oder während der Ausbildungszeit beziehungsweise dem Studium.

Auslandserfahrung als Erlernen von Weltoffenheit und Toleranz?

Ja. Das lernt man am besten, wenn man eine Zeit lang die Welt, in der man groß geworden ist, von außen betrachtet. Deshalb meine ich, ein sehr großzügiges Programm der Förderung von Sprachkursen und Auslandsaufenthalten würde uns in Ostdeutschland ein wesentliches Stück beim Aufbau von Gegenkulturen voranbringen.

Also ein Programm gegen den Mief und die Provinzialität der DDR?

Das hört sich aggressiv an. Aber man muss doch schlicht konstatieren, dass die neuen Bundesländer stark geprägt sind durch eine ängstliche Provinzialität. Und das kann nicht anders sein, nach DDR und Nazizeit und Obrigkeit im alten Preußen.

Wie soll so ein Programm organisiert und bezahlt werden?

Ich empfehle, dass wir ein große Stiftung gründen, die pro Jahr mindestens 100 Millionen Mark an Mitteln zur Verfügung stellt, um ein Programm „Zukunftsinvestition Jugend“ im Osten umzusetzen, denn es geht um Chancengleichheit. Ein anderes Thema wären Aussteigerprogramme für Rechtsradikale. In Schweden läuft das recht gut. Man bietet jungen Mitläufern der rechten Szene die Chance: Wenn ihr wollt, unterstützen wir euch beim Ausstieg, bieten euch Ausbildungskurse oder den Start in einer anderen Stadt. Das setzt pädagogische Betreuung voraus, finanzielle Unterstützungsmaßnahmen. Andere Beispiele sind Sportvereine. Wir haben im Osten, trotz der Sportvergangenheit der DDR, heute erheblich weniger Jugendliche, die in Sportvereinen verankert sind, obwohl wir wissen, dass die Freizeitbeschäftigung dort ein Stabilisierungsfaktor sein kann, dass sie eine Art Schutzimpfung ist gegen Gewalt. Und wir haben nicht ansatzweise einen ähnlichen Prozentsatz von Jugendlichen, die in Pfadfindergruppen oder ähnlichen Organistaionen, in Einrichtungen der Jugendkultur wie Theater und Musikgruppen aktiv sind.

Wo liegt der Unterschied zur bislang praktizierten „akzeptierenden Jugendarbeit“?

Die akzeptierende Jugendarbeit hat sich keineswegs bewährt. Ich finde sie problematisch, weil sie nicht deutlich macht, dass man Grenzen setzen muss, und zeigen, dass das, was die Rechten praktizieren, falsch ist. Ein Aussteigerangebot heißt ja nicht, dass man einer ganzen Gruppe plötzlich alle möglichen Maßnahmen anbietet, die sie dann als Gruppe für sich in Anspruch nehmen können. So bleiben sie als Gruppe geschlossen, keiner wagt sich heraus und man bewirkt im Ergebnis nichts. Man muss die potenziellen Aussteiger von ihren früheren Gruppenmitgliedern isolieren. Ihnen alternative Angebote machen, dass sie woanders neu mit sich und anderen anfangen können. Dann hat man eine Chance, etwas gegen die Rechten zu tun.

Wie viel Geld braucht eine solche Stiftung?

Ich habe einmal 4 Milliarden Mark Stiftungskapital in den Raum gestellt, die werfen pro Jahr 200 Millionen Mark an Zinsen ab. Mein Vorschlag war, mindestens die Hälfte der Zinsen, also 100 Milionen, sollten in den Osten gehen.

Wo soll das Geld herkommen?

Ich denke, wir haben eine einmalige Chance durch die 99,3 Milliarden, die der Bundesregierung durch die Versteigerung der UMTS-Lizenzen zur Verfügung stehen.

Wer soll im Westen gefördert werden über so eine Stiftung? Wir wollen ja schließlich keinen neuen Sozialneid.

Es gibt zwei benachteiligte Gruppen: die jungen Ostdeutschen mit schlechten Rahmenbedingungen und die jungen Einwanderer, die Kinder aus den Familien ethnischer Minderheiten. Diese beiden Gruppen brauchen dringend Förderung. Auch damit diese beiden Gruppen nicht zu Feindesgruppen untereinander werden. Der Westen sollte die Hälfte der Zinsen bekommen, um die Rahmenbedingungen ethnischer Minderheiten zu verbessern. Wir haben auch im Westen Ungerechtigkeitsprobleme.

Der ganze Bereich der Feizeitkultur, den Sie als fördernswert darstellen, ist doch genau der Bereich, der immer stärker von Privatisierung und Kommerzialisierung ergriffen wird. Freizeitangebote gibt es genug für den, der es sich leisten kann.

Das muss sich ändern. Unterstützung von Vereinen, Organisationen wie den Pfadfindern, die tolle Jugendarbeit leisten. Wir können nachweisen, das Jugendlichedort Elebnisse haben und Erfahrung machen, die sie sonst nicht haben könnten. Der Zugang zu solchen Organisationen ist versperrt, weil nicht genügend Geld da ist, sie flächendeckend anzubieten.

Und wie stärkt man die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft?

Wir haben in Großbritannien und den USA in vielen Regionen so genannte Bürgerstiftungen, die einen Zusammenschluss darstellen von Leuten, die Geld geben, und anderen, die Ideen oder Zeit einbringen. Daraus entsteht eine Basiskultur, die sich selbst finanziert. In den USA sind das 600 Bürgerstiftungen mit einem Grundkapital von etwa 45 Milliarden Mark. Verteilt über das ganze Land. Die organisieren an der Basis Jugendarbeit. Wir brauchen etwas Entsprechendes, das die Selbstorganisation der Bürger ermöglicht und eine Gegenkultur schafft.

Eine Kultur gegen Rechtsradikalismus und den gesellschaftlichen Trend einer ausgrenzenden, durchkommerzialisierten Freizeitgesellschaft?

Ja. Die Bürger müssen begreifen, dass man auhören muss zu jammern und die fehlende Fürsorge des Staates einzuklagen. Sie müssen selbst aktiv werden, um nicht alles dem Markt zu überlassen, weil dann die Jugendlichen durch den Rost fallen, die in unserer Winner-Loser-Kultur plötzlich die Verlierer wären.

Aber die Winner-Loser-Kultur ist auf dem Vormarsch?

Es gibt ein starkes Wachstum der extrem wohlhabenden, erfolgreichen Jugendlichen. Und ein ebenso großes Wachstum der stark von Armut bedrohten und von Sozialhilfe lebenden Jugendlichen. Die Sozialhilfe steigt bei keiner Altersgruppe stärker an als bei den Kindern. Von daher müssen Programme entwickelt werden, die aus der Bürgerschaft heraus Gegenmacht herstellen. Die Mut machen und die Lebensqualität erhöhen. Man braucht eine externe Finanzierungsquelle für die Zivilgesellschaft in Deutschland und für Jugendarbeit. Die Chance der UMTS-Milliarden sollte für eine Stiftung in diesem Sinne genutzt werden.

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