: Wege aus der Nazi-Falle
Nach der aufgeregten Diskussion über den Rechtsextremismus stellt sich die Frage: Wie kann die demokratische Alltagskultur gestärkt werden? Die taz stellt zwei Initiativen zur Diskussion
BERLIN taz ■ Es war ein aufgeregter Sommer. Die Nation debattierte das Thema Rechtsextremismus. Vorläufige Bilanz: Politiker haben ein Zeugnis der Entschlossenheit im Kampf gegen rechts abgelegt, und der kleinste gemeinsame Nenner lautet: Ein Verbotsantrag der NPD vor dem Bundesverfassungsgericht ist mit aller Sorgfalt zu prüfen.
Doch rassistische Gewalt gehörte auch im wortgewaltigen August zum Alltag. Die Gesellschaft ist durch die Empörung weder ziviler noch freundlicher gegenüber ihren Minderheiten geworden. Bundesaußenminister Joschka Fischer hat sicherlich Recht, wenn er meint, der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen zum Beispiel in den neuen Bundesländern sei eine Generationenaufgabe.
Das Problem ist erkannt, und in einer Woche endet die parlamentarische Sommerpause. Dann tritt der Ernstfall ein, und es wird sich zeigen, ob der Tanz rund um den Rechtsextremismus lediglich das Polit-Event des Sommers 2000 war. Alles ist möglich, nur eines steht bereits heute fest: Keine der im Bundestag vertretenen Parteien verfügt über ein Konzept, das über Schlagworte hinausgeht. Und aus Regierungskreisen ist zu hören, dass Rot-Grün von der Diskussion überrascht wurde und noch keinerlei Vorstellungen hat, wie die viel beschworene Zivilgesellschaft und die eingeforderte Zivilcourage gestärkt oder gar entwickelt werden könnten.
An anderer Stelle ist man weiter. Christian Pfeiffer, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover, beschäftigt sich seit Jahren mit der Gewaltentwicklung in Deutschland und weiß deshalb: „Zivilcourage lässt sich nicht herbeireden und herbeischreiben. Sie braucht Rahmenbedingungen.“
Mit jährlich rund 200 Millionen Mark, so Pfeiffer, ließe sich einiges bewegen. Im Osten sollten 100 bis 150 Millionen Mark in Aussteigerprogramme für Rechtsradikale und in Projekte für die Weltoffenheit der Jugendlichen investiert werden.
Im Westen hält Pfeiffer die gleiche Summe für notwendig, um die Rahmenbedigungen ethnischer Minderheiten zu verbessern. Für diese Initiativen fordert Pfeiffer eine Stiftung „Zukunftsinvestition Jugend“. Das Startkapital von vier Milliarden Mark könnte nach Pfeiffers Vorstellung beispielsweise aus den Erlösen der UMTS-Milliarden kommen.
Gleichzeitig ermuntert Pfeiffer die Bürger, mit dem Jammern über die fehlende Fürsorge des Staates aufzuhören und sich ein Beispiel an den USA zu nehmen. Dort verfügen 600 Bürgerstiftungen über ein Grundkapital von etwa 45 Milliarden Mark, mit dem die gröbsten Auswüchse der kapitalistischen Winner-Loser-Kultur in Form einer basisorientierten Jugendarbeit abgemildert würden.
Auch die Leiterin des Berliner Zentrums für Demokratie, Anetta Kahane, setzt nicht auf Aktionismus gegen rechts, sondern wie Pfeiffer auf langfristige Projekte. Der Mensch, so Kahane, sei von seinem Wesen her weder Demokrat noch Rassist. Demokratische Kultur müsse man lernen, und das geschehe nicht über Parteien und Parlamente, sondern dieses Lernen müsse bereits im Kindergarten beginnen. Zwar klingen die Anregungen von Pfeiffer und Kahane im Zeitalter des neuen Pragmatismus anachronistisch. Denn langfristige Investitionen und ein strukturelles Angehen gesellschaftlicher Probleme garantieren keine schnellen Erfolge, die man medienwirksam verkaufen könnte. Heute lautet die Maxime: Problemdefinition, Zielorientierung und Handlungsoptimierung.
Doch mit einem solchen Leitsatz kann man vielleicht die Aktienkurse eines Start-up-Unternehmens in die Höhe treiben, nicht aber eine auseinander driftende Gesellschaft gestalten und Chancengleichheiten garantieren.
Nach dem Ende der parlamentarischen Sommerpause muss die Bundesregierung zeigen, ob sie selbst über genug Zivilcourage verfügt und langfristige Konzepte unterstützt, deren Wirkungen sich möglicherweise erst am Ende der übernächsten Legislaturperiode zeigen.
EBERHARD SEIDEL
interviews SEITEN 4 und 5
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