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Eine, die nie nachließ

Morgen, am 19. November, vor hundert Jahren wurde Anna Seghers geboren: Schriftstellerin, Kommunistin, Emigrantin. Die „Biographie in Bildern“ erzählt eine Jahrhundert-Geschichte von einer Frau, die in einem langen Leben einen langen Weg zurückgelegt hat – politisch, geografisch, künstlerisch

von FRAUKE MEYER-GOSAU

Fotos, Fotos, Fotos! Ein Kleinkind, den niedlichen Kopf mit Gaze umwickelt, leichte Verdickungen über den Ohren und die Verbandskonstruktion oben mit einer Schleife verknotet, schaut den Betrachter stolz und reserviert aus dem Elternbett an – Netty Reiling, geboren am 19. November 1900 in Mainz, hat eine Neigung zu Ohrenentzündungen.

Doch für das Kind unter dem Turban ist gut gesorgt. Sein Vater ist ein vermögender Kunsthändler, die Mutter, eine sozial engagierte Frau, kümmert sich. „Israelitischer Religion“ ist die Familie, das besagt die Geburtsurkunde. Jugendbilder zeigen dann ein Mädchen mit langem, dunklem Haar – außer Schönheit nichts Auffälliges.

Oder hat man es nur nicht erkannt hinter der Glätte bürgerlicher Contenance? Zurückhaltend, oft ein wenig abwesend, so erscheint das Frl. Reiling auch als Kunststudentin, und nicht anders sitzt sie schließlich 1925 mit ihrem Bräutigam, dem ungarischen Philosophen Laszlo Radvanyi, in einem Strandkorb am Meer – ein depressives Bild: Wer stützt sich da auf wen? Wer muss hier wen beschützen? Keiner von beiden lächelt.

Ist zu erkennen, dass diese junge Frau schreibt? Dass sie drei Jahre später, achtundzwanzigjährig und Mutter zweier Kinder, mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet wird, während ihr Mann in Berlin die Marxistische Arbeiterschule leitet? Natürlich nicht. Lesend und schreibend wird Netty Radvanyi geb. Reiling erst viel später fotografiert, da ist sie längst berühmt, und nur Freunde kennen ihren wirklichen Namen. Für alle anderen ist sie: Anna Seghers.

Die wunderbar sorgfältig gemachte „Biographie in Bildern“, die nun zu ihrem hundertsten Geburtstag (am morgigen 19. November) in zweiter Auflage erscheint, versorgt die Fotos mit Dokumenten, Erläuterungen, Interviews, gibt auch noch einen diskret kritischen Essay von Christa Wolf dazu. Denn ohne diese Hilfen sähe man nicht genug. Unmissverständlich allerdings: Dies ist die Geschichte einer Frau, die in einem langen Leben einen langen Weg zurückgelegt hat – politisch, geografisch, künstlerisch. Einer Frau, die fast immer ernst bleibt, ab 1933 plötzlich in französischer Umgebung. Da sitzt sie etwa in einem Café: eine Dame in gepunktetem Kleid mit weißem Sommerhut, rauchend.

Dramatisches aber ist diesen Bildern nicht abzulesen, obwohl es sich längst ereignet hat: Flucht, Emigration, der Tod des Vaters, die Verschleppung der Mutter in ein Lager. 1941 flieht die Familie weiter und wird schließlich in Mexiko aufgenommen. Da ist die promovierte Kunsthistorikerin, verfolgt als Jüdin und als Kommunistin, schon lange eine bekannte Schriftstellerin. Ihr Roman „Das siebte Kreuz“, der 1942 erscheint, wird sie weltberühmt machen. Weltberühmt und trotzdem verfemt: Seit 1928 ist Anna Seghers Mitglied der KPD. Oft sieht man sie mit Kollegen auf internationalen Kulturkongressen abgebildet – in Charkow 1930, in Paris 1935, in Madrid 1937. Aber auch mit Kämpfern der Internationalen Brigaden, in Mexiko als Präsidentin des Heinrich-Heine-Klubs, viel später in China.

Anna Seghers, ein Aushängeschild des deutschen Kommunismus. Eine Funktionärin? Eine jedenfalls, die politische Funktionen wahrnimmt, und bestimmt eine, die nicht nachlässt. Auch nicht, als sie 1943 in Mexiko bei einem Unfall fast zu Tode kommt. Danach zeigen die Fotos für kurze Zeit ein anderes Bild: graue, kurze Haare, das Gesicht ungeschützt in der Not, ins Leben zurückzufinden. Ihre schönste Erzählung, „Der Ausflug der toten Mädchen“, entsteht in dieser Zeit.

Als Nazideutschland besiegt ist, kehrt Anna Seghers 1947 nach Berlin zurück. Fünfzehn Lagen Ziegel hat man da übereinander geschichtet, ein paar Pflanzen vor das Mäuerchen gestellt, drei Mikrofone obendrauf – dahinter steht sie nun, im Hof der Humboldt-Universität. Eine kleine Person in grauem Kostüm, mit grauem Knoten, kaum überragt sie die Mikrofone: Ansprache zum „Tag des freien Buches“. Zurückgekehrt in ein Land, das ihr „ganz beklemmend und ganz unwahrscheinlich frostig“ erschien, rückt Anna Seghers wieder ein in die Parteiarbeit, eine öffentliche, eine geradezu staatliche Person. Zu Hause liest ihr Mann ihre Manuskripte und kommentiert sie schriftlich, im Parteisekretärston – die Gesinnungsprüfung findet hier in den eigenen vier Wänden statt.

Für außen aber andere Bilder: Anna Seghers mit jungen Lesern, Anna Seghers in der Fabrik, Anna Seghers mit Kollegen, vor der Bücherwand, an der Schreibmaschine – das ist die Bilderfolge der DDR-Jahre. Und dann ist sie alt, das Gesicht tief gefurcht; und schaltet sie einmal das Fassadenlächeln aus, kommt eine fragende, vielleicht zweifelnde, gewiss keine fröhliche Greisin zum Vorschein. Das ist das letzte Bild, und auch darauf ist sie immer noch schön.

Der unversehrte Anschein hat einen hohen Preis, doch davon können die Bilder nichts erzählen: nichts von der Unterdrückung eigener Impulse, Wünsche, Erkenntnisse und Befürchtungen, nichts davon, was der selbst auferlegte Zwang zur Bestätigung und Repräsentanz einer absolut gesetzten Parteipolitik zuletzt auch ihrer Literatur angetan hat. Vor der Wahrheit, die einer kennt, aber nicht sagen will, schützt auf die Dauer nur die Maske. Wie die ins Gesicht wächst, davon handelt diese Bildgeschichte: ein Jahrhundert-Bildnis.

Frank Wagner, Ursula Emmerich, Ruth Radvanyi (Hg.): „Anna Seghers. Eine Biographie in Bildern“. Aufbau Verlag, Berlin 2000, 262 Seiten, 39,90 DM

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