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Die Macht aus den Gewehren

„Wenn ein Scharfschütze den Befehl zum Schießen bekommt, schießt er, um zu töten“

aus Jerusalem SUSANNE KNAUL

Zuerst die nüchterne Statistik: 268 Todesopfer auf palästinensischer Seite zählt die Autonomiebehörde nach zehn Wochen Intifada. Über die Hälfte seien Kinder. Nach Untersuchungen von Dr. Mustafa Barghouti, der die Daten über Tote und Verletzte auf palästinensischer Seite sammelt, sind 92 Prozent von Geschossen mit hoher Geschwindigkeit getroffen worden, wie sie israelische Scharfschützen verwenden. 98 Prozent wurden in den Oberkörper getroffen, davon wiederum über die Hälfte in den Kopf oder Hals. Über 10.000 Menschen wurden den Informationen zufolge verletzt. Nach Angaben der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ leidet ein Viertel der Verletzten unter Wunden im Kopf- und Halsbereich. Die Israelis beklagen 35 Tote (18 Soldaten, 17 Zivilisten) und 411 Verletzte (249 Soldaten, 162 Zivilisten) in den letzten zehn Wochen. Sie beziffern die Opfer der Gegenseite auf 234 getötete und zwischen 3.200 und 3.500 verletzte Palästinenser.

Die Israelis schießen, um zu töten, sagen die Palästinenser. „Wir versuchen, nur die untere Körperhälfte zu treffen“, behauptet die israelische Armee. Seit Beginn der Unruhen verfolge das Militär durchgängig die Strategie, nur dann zu schießen, wenn unmittelbare Lebensgefahr für Soldaten oder israelische Zivilisten besteht. Erst vor knapp zwei Wochen kam die Anordnung an die Soldaten, in Einzelfällen auch selbst die Initiative ergreifen zu können. „Das war bisher ganze sechsmal der Fall“, erklärt Oberst Jarden Vatikai vom Public-Relations-Büro der Armee. Dazu gehören zwei Exekutionsoperationen gegen führende Aktivisten der Tansim, der Fatah-Jugendorganisation. Natürlich werde auch dann schon geschossen, wenn man „davon ausgehen muss, gleich angegriffen zu werden“. Das sei der Fall an Orten, wo es regelmäßig zu Auseinandersetzungen kommt. „Wir stellen uns nicht hin und warten, bis man auf uns schießt“, verteidigt das Oberst Vatikai.

Der Oberst, Anfang 30, sitzt in einem winzigen Tel Aviver Büro mit mehreren Computern, einem laufenden, auf CNN eingestellten Fernseher und Papierbergen auf dem Tisch, der den Raum beherrscht. Sein Mobiltelefon ist auf Vibrationsalarm gestellt. Es vibriert fast ununterbrochen. In diesen Tagen spielt die militärische Öffentlichkeitsarbeit eine zentrale Rolle. Ohne die Uniform könnte man den Presseoffizier für einen der smarten Hightech-Unternehmer halten, die zunehmend die israelische Wirtschaft bestimmen. Bei der Armee ist es sein Job, vor der Öffentlichkeit, vor allem der Öffentlichkeit im Ausland, das scharfe Vorgehen der Soldaten in den Palästinensergebieten zu rechtfertigen. Der internationale Ruf der israelischen Armee war seit Jahren nicht so schlecht wie in diesen Tagen.

Die Zahl von rund 200 Opfern auf palästinensischer Seite – so rechnen die Israelis – mache nur einen „ganz kleinen Prozentsatz“ der Demonstranten aus und zeuge damit von der Genauigkeit, mit der die Soldaten gegen den Feind vorgingen. Über 2.000 Schuss- und Sprengstoffübergriffe zählen die Israelis seit Beginn der Unruhen. „Im Verhältnis zu den Zwischenfällen ist die Zahl der Toten sehr gering.“ Auch bei Luftangriffen seien vor allem leerstehende Gebäude das Ziel. Tatsächlich hat die Armee bei den ersten Bombardierungen die Bevölkerung vorgewarnt. Bei der letzten großen Attacke ohne Vorwarnung, die die Luftwaffe über dem Gaza-Streifen flog, gab es hingegen viele Verletzte und mindestens einen Toten.

Dass sich die Bilder der vielen Toten in den Augen der Weltöffentlichkeit nicht gerade günstig ausnehmen, versteht auch die Armee. „Weshalb sollten wir deshalb ein Interesse haben, die Zahl absichtlich hochzuschrauben?“, fragt Oberst Vatikai. Je nach Situation werde immer erst Tränengas eingesetzt, dann Gummimantelgeschosse, dann scharfe Munition. „Andere Mittel, die für unsere Zwecke effektiv sind, gibt es nicht“, meint der Oberst. Gleich zu Beginn der Unruhen schickten die israelischen Militärs Delegationen in 25 Länder, um sich über alternative Methoden zur Auflösung von Demonstrationen zu informieren. Dabei sei nichts herausgekommen. „Wir brauchen Tränengas, das weitflächig auf eine Entfernung von 100 bis 150 Metern wirkt. So etwas gibt es nicht.“

Die Einschätzung der Lage wird dem Soldaten vor Ort überlassen. Er allein entscheidet, wann eine Situation lebensbedrohlich wird und wann er die Geschosse in seinem Gewehr austauscht, oft eine Entscheidung in Sekundenschnelle.

Die größte Zahl der Toten auf palästinensischer Seite geht indes nicht auf das Konto normaler Infanteristen. Sie sind den Scharfschützen zuzuschreiben, die grundsätzlich nur mit scharfer Munition in den Kampf ziehen. Amira Haß, Reporterin der Tageszeitung Haaretz, veröffentlichte vergangene Woche ein Interview mit einem der israelischen Scharfschützen, der anonym über die Vorgehensweise in seiner Einheit berichtet. „Auf jeden, der einen Molotowcocktail in der Hand hält, wird geschossen.“ Die Regel sei, dass auf Demonstranten mit Molotowcocktails in die Beine geschossen wird, auf Tansim-Anhänger, die bewaffnet sind, in den Oberkörper. „Wenn ein Scharfschütze den Befehl zum Schießen bekommt, dann versucht er, den Kopf zu treffen. Der Scharfschütze schießt, um zu töten.“

„Im Verhältniszu denZwischenfällenist die Zahl der Toten sehr gering“

Der Soldat spricht in dem Interview von seiner früheren Absicht, so wenig wie möglich zu schießen. Vor Ort sähe es anders aus: „Wenn man schon dort ist – das ist schrecklich, so etwas zu sagen –, aber dann hofft man, dass etwas dabei herauskommt“, und man „den bösen Leuten eine Lektion erteilen kann“. Kinder gehörten nicht dazu. Erst auf Demonstranten „ab zwölf Jahren aufwärts darf geschossen werden“.

Auf palästinensischer Seite gelten die Demonstranten im Alter bis 18 Jahre als Kinder. So erklärten sich die unterschiedlichen Angaben über die getöteten Minderjährigen. Die israelische Armee spricht von nur 30 Todesopfern im Alter von unter 16 Jahren. Oberst Vatikai räumt indes ein, dass „wir das nicht genau nachprüfen können“. Selbst wenn es „nur“ 30 Kinder wären, dann sind alle 30 Opfer von „Versehen“, denn kein Zwölfjähriger wirft Molotowcocktails oder trägt ein Gewehr. In der Hitze des Gefechts „passieren Fehler“, gibt Oberst Vatikai zu. Verantwortlich dafür sei indes die palästinensische Seite, die die Kinder gezielt an die vorderste Front schickt.

Die Propaganda für den Kampf gegen die Besatzung richtet sich tatsächlich vorwiegend an die Kinder. Wenn gelernt wird, bleibt es ruhig in den Palästinensergebieten. „Die Schüler sind von der Straße weg, solange der Unterricht andauert“, sagt Siad Alnathir vom palästinensischen Erziehungsministerium. Normalerweise dauert der Unterricht bis 15 Uhr nachmittags. Diese Woche begann jedoch der muslimische Fastenmonat Ramadan, in dem die Schule nur bis zum Mittag dauert. „Die Schulkinder können das Unterrichtsende kaum abwarten, um auf das Schlachtfeld zu kommen“, schreibt die palästinensische Tageszeitung Alhayat al Jadida, während im offiziellen Fernsehen das Erbe von Muhammad Aldura, dem ersten jungen „Schahid“ (Märtyrer), gepriesen wird.

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