: Al Gore ist angezählt
aus Washington PETER TAUTFEST
Samstagvormittag in der Bücherei von Tallahassee: Gruppen von Richtern sitzen jeweils zu dritt über Stimmzettel gebeugt und zählen. Da meldet sich das Oberste Bundesgericht und weist an: halt, aufhören!
Die Entscheidung, die Handauszählung zu unterbrechen, war mit der denkbar knappen Mehrheit von fünf zu vier Stimmen gefallen. Ungewöhnlich für eine einstweilige Verfügung war auch der Umstand, dass sie sowohl mit einer Begründung als auch einer Gegenbegründung erlassen wurde. Die Supremes sparten nicht mit Bildern: „Das Zählen von Stimmen zweifelhafter Gültigkeit stellt (...) eine Gefahr im Verzug für den Antragsteller (Bush) und das Land dar, weil es die Wolke des Zweifels über die (von Bush) behauptete Legitimität seiner Wahl heraufbeschwört“, schrieb Richter Antonin Scalia in seiner Begründung.
Im Klartext würde das bedeuten: Es soll nicht gezählt werden, weil das Nachzählen Zweifel an der Behauptung Bushs aufkommen ließe, er sei legitim gewählt. „Die Nachzählung jetzt zu stoppen, wird unweigerlich Zweifel an der Legitimität dieser Wahl heraufbeschwören“, setzt Richter John Paul Stevens für die Minderheit der Richter dagegen.
Die Situation der Richter nimmt surreale Züge an: Ob die abgegebenen und von Maschinen nicht gezählten Wahlzettel gültige Stimmen für den einen oder anderen Kandidaten sind, kann man nur entscheiden, wenn man sie zählt. Das aber präjudiziert das Wahlergebnis. Die Richter und das ganze Land stehen also vor der Wahl, entweder einen zweifelhaften, aber ordentlichen Wahlausgang zu haben oder die wirklichen und vielleicht nie wieder rekonstruierbaren Mehrheitsverhältnisse zu ergründen und darüber den verfassungsmäßig vorgeschriebenen Prozess über den Haufen zu werfen. Also grobe Gerechtigkeit gegen Chaos.
Heute um 17 Uhr MEZ wird der Supreme Court die Anwälte von Al Gore und George W. Bush hören und wahrscheinlich – das deutet das Mehrheitsvotum für die einstweilige Verfügung vom Samstag bereits an – das Nachzählen von Hand untersagen. Damit wäre Bushs Präsidentschaft gesichert. Morgen muss zweifelsfrei feststehen, für wen Floridas Wahlmänner stimmen. Der 12. Dezember ist so bedeutsam, weil er in einem Bundesgesetz als der Termin genannt ist, bis zu dem Wahlmänner benannt sein müssen, damit ihr Mandat im Kongress nicht angezweifelt wird.
Da kam Stimmung auf
„Wir haben keine Verfassungskrise,“ erklärte Arlen Specter, Senator aus Pennsylvania, gestern noch. Doch wie soll man das nennen, wenn ein Oberstes Gericht dem anderen in den Arm fällt? Wenn Landesparlament und oberstes Landesgericht sich anschicken, gegenseitig ihre Entscheidungen auszuhebeln? Wenn Tom DeLay, Fraktionsvorsitzender der Republikaner im Repräsentantenhaus, Gerichtsentscheidungen auf Länderebene als „juristische Aggression“ bezeichnet?
Am Freitag hatte das Oberste Gericht von Florida ein Urteil des Bezirksrichters Sanders Sauls kassiert und dem Antrag der Gore-Kampagne stattgegeben. Nicht nur mussten alle in den Landkreisen Palm Beach, Nassau und Miami-Dade nachgezählten, aber bisher nicht angerechneten Stimmen für Gore in das Endergebnis einfließen, womit Bushs Vorsprung von 537 auf 154 Stimmen schrumpfte. Es sollten auch alle Wahlzettel, die in den 67 Landkreisen in Florida von Zählmaschinen als unlesbar ausgespuckt worden waren, noch mal von Hand gezählt werden. Die Zählung sollte bis Sonntagmittag 14 Uhr Ortszeit abgeschlossen sein. 46.000 Stimmen in 30 Stunden zu zählen, dürfte eigentlich nicht so schwierig sein. Kanada hat gerade 13 Millionen Stimmen in drei Stunden von Hand ausgezählt.
Anders aber als jenes Urteil vom 21. November, das die Frist zur Meldung von Wahlergebnissen bis nach Thanksgiving verlängert hatte, erging das Urteil am Freitag nicht einstimmig. Von sieben Richtern stimmten drei dagegen.
Der Vorsitzende Richter Charles Wells sprach in seiner Urteilsbegründung das böse Wort aus: „Ich habe die tiefe Sorge, dass die Verlängerung des gerichtlichen Prozesses um das Auszählen von Stimmen dieses Land und diesen Bundesstaat in eine noch nie dagewesene und unnötige Verfassungskrise stürzt.“
Ungeachtet Richter Wells' Sorge führte das Urteil zu Freudentänzen der Gore-Anhänger vor dem Gericht in Tallahassee und vor der Residenz des Vizepräsidenten in Washington. Gores Präsidentschaft erschien als reale Möglichkeit am Horizont. Da kam Stimmung auf – unter den Demokraten.
„Liest man das Urteil genau“, kommentiert der amerikanische Verfassungsrechtler Edward Eberle, „hat man den Eindruck, dass alle Richter in Florida das ablehnende Urteil des Bezirksrichters in Tallahassee eigentlich für falsch hielten. Floridas Gesetze sehen im Zweifelsfall ausdrücklich das Nachzählen von Hand vor. Drei der Richter aber glaubten, dass man wegen der kurzen Frist nichts mehr ändern könne.“ Anders gesagt: Die Mehrheit der Richter schien bereit zu sein, das Wahlrecht als höherrangiges Rechtsgut anzusehen.
Ob die Bundesregierung von Florida allerdings tun kann, was sie will, ist umstritten. „Die Verfassung ist in diesem Punkt glasklar“, sagt Verfassungsrechtler Roger Pilon dazu, „ ,Jeder Staat benennt Wahlmänner nach Maßgabe der Bestimmungen des Landesparlaments.' So steht's in Artikel 2 der Verfassung.“
„Das heißt nicht, dass das Landesparlament nach Gutdünken Wahlmänner benennen kann“, sagt dazu Professor Eberle. „Florida hat ein Wahlgesetz verabschiedet, wonach die Wahlmänner für den Kandidaten stimmen, für den die Mehrheit der Wähler dort ihre Stimme abgegeben haben. Das Parlament kann nicht nachträglich sein eigenes Wahlgesetz außer Kraft setzen“.
Sollte also das Urteil des Obersten Gerichtshofes der USA keine Klarheit schaffen, landet die Wahl des Präsidenten vor dem Kongress. Dort haben im Unterhaus die Republikaner und im Senat die Demokraten die Mehrheit. Am Ende könnte dabei herauskommen, dass das Repräsentantenhaus Bush zum Präsidenten und der Senat Lieberman zum Vizepräsidenten wählt.
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