: Kalkulierte Wortklauberei
DAS SCHLAGLOCHvon KLAUS KREIMEIER
„Es wäre eine absurde Vorstellung, würden die Machenschaften Honeckers, Mielkes und ihrer Helfershelfer zehn Jahre nach der Wiedervereinigung späte Triumphe feiern.“ (Helmut Kohl über die mögliche Freigabe seiner Stasi-Akte)
Das Argument können sich auch die Widersacher zu Eigen machen: Mielke und Co. feierten einen späten Triumph, würde die Aufdeckung ihrer geheimdienstlichen Machenschaften ausgerechnet vor den Abhörprotokollen westdeutscher Politiker Halt machen. „Betroffen“ sind hier keineswegs nur die seinerzeit Regierenden selbst, sondern die gesamte von ihnen regierte (ehemals west-, nun gesamtdeutsche) Bevölkerung: Sie hat ein historisch, moralisch und politisch begründetes Recht darauf, zu erfahren, wie und mit welchen Ergebnissen das Ministerium für Staatssicherheit der DDR den damaligen Kanzler der Bundesrepublik und die Mitglieder seines Kabinetts belauscht hat.
Kohl meint: Durch die Freigabe von „kriminell“ geschöpften Informationen werde seine „Menschenwürde“ verletzt. Delikaterweise sagt dies ein Verfassungsbrecher, der selbst alles daran setzt, nicht nur den parlamentarischen Untersuchungsausschuss, sondern auch die Wähler, denen er seine ehemaligen Machtbefugnisse verdankt, über gewisse Details seiner Amtszeit im Dunkeln zu lassen. Und was heißt „kriminell“? Auch die Archive des Sicherheitsdienstes (SD) der SS wuchsen auf den Grundlagen einer verbrecherischen Politik. Forscher und Medien wären jedoch schlecht beraten, würden sie deshalb auf das Erkenntnismaterial verzichten, das die Protokolle des SD zu historischen Quellen macht.
Vermutlich beruht der weitaus größere Teil unseres gesicherten historischen Wissens auf Informationen, die nicht auf rechtsstaatlichem Wege gewonnen wurden. Zum Glück haben die Jakobiner ihre Überlegung, die Akten der Bourbonen-Bürokratie zu vernichten, nicht in die Tat umgesetzt – wir wüssten sonst nur wenig über die Zustände in Frankreich unter dem Ancien régime. Und verlaufen alle telefonischen Abhöraktionen in der heutigen Bundesrepublik heute in rechtsstaatlicher Weise – nur weil sich unser Gemeinwesen selbst rechtsstaatlich nennt? Der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung hat dieser Tage besorgt gefragt, wie der sprunghafte Anstieg der Lauschangriffe innerhalb eines Jahres von 9.000 auf 12.600 zu erklären sei.
Inzwischen zeigt sich deutlicher, dass es nicht um eine „Lex Kohl“, nicht um eine „Sonderregelung“ für den ehemaligen Kanzler geht – obwohl die Grünen und Angela Merkel ebendies behaupten und Schilys Pläne so durchkreuzen wollen. Ein alt-neues, parteiübergreifendes Machtkartell zeichnet sich ab, das selbst Überwachung praktiziert und die Gewissheit, seinerseits überwacht zu werden, verinnerlicht hat. Geheim(dienst) tuerei ist in dieser Mentalität zur Natureigenschaft politischen Handelns geworden. Erst jetzt dämmert es den Herrschaften, welches Kuckucksei man sich seinerzeit, 1991, mit dem Gesetz über die Veröffentlichung der Stasi-Unterlagen ins Nest hat legen lassen. „Im Grunde“ sei damals „Revolutionsrecht“ geschaffen worden, sagt heute erschrocken Dieter Wiefelspütz, der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion. „Einige Fragen des Persönlichkeitsschutzes“ habe man „nicht so scharf gesehen“. Das ist natürlich Unsinn, denn man hatte zehn Jahre Zeit, schärfer hinzusehen, als es um die Persönlichkeitsrechte ehemaliger DDR-Bürger wie Gregor Gysi oder Reinhard Höppner ging.
Doch das Stichwort „Revolutionsrecht“ trifft den Nagel auf den Kopf – auch wenn man heute den Bürgerrechtlern, in deren revolutionärem Nimbus sich auch Wessis gerne sonnen, in diesem Punkt die revolutionäre Spitze abbrechen will. Die Einrichtung der Gauck-Behörde und die Vehemenz, mit der sie Marianne Birthler jetzt verteidigt, bezeichnen selbst in der Geschichte demokratischer Staaten eine neue Qualität. In der Tat hat die politische Umwälzung im einen Teil Deutschlands mit dem Gesetz über die Stasi-Akten ein Recht geschaffen, das auch für die Demokratie im vereinigten Deutschland Maßstäbe, nämlich verpflichtende Leitlinien für den Umgang zwischen Regierenden und Regierten, Lauschern und Belauschten setzt. Es liegt auf der Hand, dass die ehemaligen wie die heutigen Machthaber ob östlicher oder westlicher Provenienz dasselbe Interesse eint: dem neuen Recht seine damals nur geahnte und heute akut gewordene Brisanz zu nehmen. Die Gauck/Birthler-Behörde stellt eine Provokation dar; sie ist ein Prüfstein auf die Frage, wie ernst eine Demokratie ihre eigenen rechtsstaatlichen Grundlagen zu nehmen wagt.
Bedauerlicherweise enthält das Gesetz von 1991 eine missverständliche Formulierung, die von unserem Innenminister und Kohls Anwälten nun genüsslich hin- und hergedreht wird. Danach darf, im Fall einfacher Staatsbürger, die Akte nur mit deren Zustimmung veröffentlicht werden. Amtsträger sowie Personen der Zeitgeschichte können sich hingegen nur dann gegen die Weitergabe ihrer Akten wehren, wenn sie „Betroffene“ sind. Nun ist logischerweise jeder, dessen Telefonapparat auf Mielkes Geheiß abgehört oder dessen Wohnung von Stasi-Technikern verwanzt wurde, ein Betroffener – egal, ob er nun als hoher Amtsträger vom Mantel der Zeitgeschichte eingehüllt wird oder eher dem Fußvolk zuzurechnen ist. Der Unterschied: Ein verfolgter Schriftsteller oder eine bespitzelte Krankenschwester haben ein legitimes Interesse daran, dass die Öffentlichkeit erfährt, was mit ihnen geschah – nur sollen sie frei entscheiden dürfen, ob es die Öffentlichkeit auch erfahren soll. Personen der Zeitgeschichte wird, aus gutem Grund, dieses Recht nicht ohne weiteres zugestanden. Aber auch sie sollen sich, aus ebenso gutem Grund, wehren dürfen, wenn es um die Veröffentlichung von Details geht, die ihre Existenz als Privatpersonen betrifft. Das Gesetz meint etwas Richtiges und drückt es falsch aus – es bleibt die Sinnlücke, mit der jetzt juristisch Schindluder getrieben wird.
Ein hoher Amtsträger, dies sei ihm zugestanden, neigt zur Schwerhörigkeit, wenn die Öffentlichkeit Einsichtnahme in seine Opferakte begehrt: schon darum, weil er als Opfer in der Regel auch Täter, will sagen: politischer Akteur und somit involviert in komplizierte Mechanismen war. Hier beginnt der Bereich des politischen Arkanums, den mittlerweile die gesamte politische Klasse in Berlin zu schützen trachtet – anders lässt sich die Anti-Birthler-Koalition aus CDU, SPD und PDS wohl kaum erklären. Dass Otto Schily sich selbst zur Speerspitze der politischen Klasse ernannt hat, ist nicht verwunderlich. Von ihm ist längst bekannt, dass er als Polizeiminister unter den Jakobinern wie unter Napoleon oder den Bourbonen eine taugliche Figur abgegeben hätte: Er ist der maßgeschneiderte Joseph Fouché der Berliner Republik. Doch ein unabhängiges Gericht ist dazu da, trügerische Manöver zu durchschauen und hinter aller kalkulierten Wortklauberei den Geist der Gesetze zu erfassen. Es geht nicht um das Wohlbefinden einiger Amtsträger, sondern um den Willen des Souveräns.
Artikelhinweis:Als es um die Persönlichkeitsrechte ehemaliger DDR-Bürger ging, hat man nicht so genau hingesehenOtto Schily hätte als Polizeiminister unter den Jakobinern oder unter Napoleon eine gute Figur gemacht
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