Zeichen zunehmender Verwirrung

Die Untersuchung oder Der Untergang des Hauses Kohl – Epilog

VON JOSEPH VON WESTPHALEN

Jahre später kam die literaturwissenschaftliche Fakultät der kleinen Universität Greifswald auf die Idee, die einstigen Verhöhner des legendären Kanzlers zu einem Symposion zu laden. Es sollte vorgeführt werden, wie in der alten Bundesrepublik literarische Obrigkeitskritik ausgesehen hatte.

Auch wollte die Universität mit der Tagung auf sich aufmerksam machen. Noch immer waren die Universitäten der längst nicht mehr neuen Bundesländer schlecht besucht. Die nichtsnutzigen Studenten behaupteten, dort sei nichts los, die strebsamen führten die Ausländerfeindlichkeit ins Feld: In einer Atmosphäre des Fremdenhasses könnten sie ihr Studium nicht in der nötigen Konzentration absolvieren. Gegen diese überholten Vorurteile wollte die Greifswalder Universität ein Zeichen setzen. Die Rektorin war ebenholzschwarz und kam aus dem Senegal. Der germanistische Lehrstuhl war von einer kaffeebohnenbraunen Prinzessin aus Kamerun besetzt. In Ermangelung unvoreingenommener deutscher Studenten waren zwei Drittel der Studierenden Farbige. In einem Resozialisierungsprogramm waren die ostdeutschen Neonazis umgeschult worden und taten nun als Raumpfleger ihren demütigen deutschen Dienst.

Im Vorfeld der Tagung war es heftig hin und her gegangen. Sollte man Kohl selbst einladen oder nicht? „Ja“, sagten einige der Teilnehmer, „wir wollen ihn mit unseren Vorhaltungen konfrontieren!“ – „Keinesfalls“, sagten andere, „wir wollen unsere Animositäten pflegen.“ Die Berührungsangst des Geistes mit der Macht sei das Beste, was Deutschland je hervorgebracht habe, argumentierten sie. In der Zeit der SPD-Regierung sei es mit der Berührungsangst ohnehin den Bach hinuntergegangen. Der natürliche Feind des Politikers sei der Schriftsteller, Versöhnung sei Kitsch. Manche der Eingeladenen wollten nicht nach Greifswald kommen. „Nicht in diese multikulturelle Idylle!“, ließen sie verlauten.

Von vielen der Literaten hatte man ebenso wie vom Kanzler lange nichts mehr gehört. Die Aussicht, ihre alten Anti-Kohl-Texte in einem Sammelband noch einmal gedruckt zu sehen und dafür ein paar lumpige Euro zu kassieren, mochte sie bewegt haben. Ihre schriftstellerische Karriere war zum Teil symbiotisch oder parasitär mit der Kanzlerschaft Kohls verbunden, und mit dessen Abtreten von der politischen Bühne war auch ihr Stern gesunken. Nun trugen sie ihre jahrzehntealten Kanzlerverhöhnungstexte vor, sehr zum Entzücken der schwarzen, braunen, beigen und gelben Studenten und zur Verwunderung der amerikanischen Gäste, denen in ihrer Heimat zwar das Tragen und notfalls auch der Gebrauch von Waffen erlaubt ist, denen aber ein angeborener Patriotismus verbietet, selbst ihren blödesten Präsidenten oder Gouverneur als fauligen Bovist oder auch als Scheißeficker zu bezeichnen.

Drei Tage lang trugen betagte Dichter aus der alten Bundesrepublik ihre längst historisch gewordenen Polemiken vor. Fleißig schrieben die gelben und beigen und braunen und schwarzen Studenten mit und kicherten über die alten Texte, in denen Kohl als Kanzlerschwein, Nilpferd, Nashorn, Dinosaurier und natürlich als Birne bezeichnet wird und in denen seine Beseitigung mit Säbeln, Faustfeuerwaffen, Feuerwerkskörpern und Unkrautvernichtungsmittel lustvoll erwogen wird.

Zu einem Eklat kam es, als Kohl tatsächlich auftauchte – und zwar wie die die Tagung leitende Rektorin später ebenholzschwarz und schulternzuckend versicherte – uneingeladen. Er hatte auf der Ostseeinsel Rügen Urlaub gemacht und im Greifswalder Boten von der Tagung gelesen. Mit den Worten „Das hör ich mich jetzt mal an“ betrat er das Auditorium, in dem nach einer Lesung gerade diskutiert wurde, ob ein Text noch als Literatur bezeichnet werden könne, der beschreibe, wie der Kanzler in eine Kloake gestoßen werde und dortselbst ertrinke. Zur Überraschung der Tagungsteilnehmer und der Tagungsgäste protestierte der ehemalige Kanzler nicht gegen seine literarische Misshandlung. Entgegen seiner Ankündigung schien er nicht zuzuhören. Er hatte in der vorletzten Reihe einen Platz gefunden, und bald begann er mit lauten Zwischenrufen zu irritieren, die sich aber nicht auf den Verlauf der Diskussion zu beziehen schienen. So bemerkte er sehr laut: „In vierzehn Tagen werde ich achtzig.“ Als niemand darauf einging, wiederholte er diesen Satz mehrmals. Wenig später sagte er mitten in den Gesprächsbeitrag eines syrischen Komparatisten: „Also wenn das keine blühenden Landschaften sind!“ Diese Bemerkung wurde mit zaghaftem Beifall und zaghaftem Zischen quittiert.

Plötzlich erhob sich Kohl und ging entschlossen nach vorn aufs Podium. Historisch gebildete Anwesende fühlten sich an das Bild erinnert, wie Kohl zu Beginn der 1990er Jahre auf frustrierte Ostdeutsche zuschritt, die ihn mit Eiern beworfen hatten.

Nun ging er wuchtig zum Mikrophon und schob den syrischen Komparatisten beiseite. Alle im Saal waren gespannt auf seinen Redebeitrag. Kohl sagte: „Ich wiege immer noch vier Zentner!“ Er machte eine Pause, legte den Kopf schief, lächelte, deutete auf seine Strickjacke und sagte: „Das ist die Strickjacke, die ich damals trug, als ich mit Michael Gorbatschow an der Wolga spazieren ging und wir die Auflösung der Sowjetunion beschlossen. Oder war es der Dnjepr?“ Nach diesen Worten setzte sich Kohl wieder an seinen Platz, schwieg und hörte offensichtlich weiterhin nicht zu.

Nachts in der Badewanne seines Hotelzimmers auf Rügen erlitt Kohl einen Schlaganfall. Seine Frau Hannelore behauptete anderntags in CDU-nahen Blättern, ihr Mann habe sich wegen des respektlosen Umgangs der Literaten mit seinem Lebenswerk als Kanzler so erregt. Sie habe das Versinken des vier Zentner schweren Körpers im Wasser der Wanne nur mit Mühe verhindern können. Eine ärztliche Untersuchung ergab, dass Kohl während seines Urlaubs auf Rügen schon vor Beginn der Greifswalder Tagung mehrere kleine Schlaganfälle gehabt hatte. Dies erklärt auch seinen eigenartigen Auftritt bei der Tagung.

Helmut Kohl schwebt nicht mehr in Lebensgefahr. Sein Geisteszustand allerdings ist instabil. Nach Auskunft der Ärzte ist es fraglich, ob und inwieweit eine Regeneration der Gehirnfunktionen möglich ist.

Der ganze Roman liegt am nächsten Samstag komplett und gebunden der taz bei. Mit einem letzten, allerletzten Wort zu Helmut Kohl von TOM.