: Gericht: Verkaufen heißt nicht kennen
Der Kreuzberger „Gemischtwarenladen für Revolutions- und Demonstrationsbedarf“, kurz M 99, wurde bereits 48-mal von der Polizei durchsucht. Doch vor Gericht wird der Betreiber meist freigesprochen. So auch gestern
Nicht umsonst hat der 41-jährige Hans-Georg Lindenau seinem Laden in der Manteuffelstraße 99 einen ungewöhnlichen Namen gegeben: In dem „Gemischtwarenladen für Revolutions- und Demonstrationsbedarf“, kurz M 99 genannt, ist alles zu haben, was das linksradikale Herz begehrt: politische Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, CS-Gas, 3-Loch-Sommer-und-Winterhäubchen, besser als Hasskappe bekannt, Kapuzenpullis, so genannte Gorleben-Handschuhe für zwei Mark das Paar aus NVA-Beständen, Spuckis und Haarfärbemittel. Auch die Busfahrt zur nächsten Anti-Castor-Demo kann man hier buchen.
M 99 ist der Polizei schon lange ein Dorn im Auge. Seit 1978 sind bei Hans-Georg Lindenau, den seine Freunde HG rufen, 48 Razzien durchgeführt worden. Meist ging es um inkriminierte Artikel aus den Autonomen- Zeitschriften radikal oder interim oder um Bekennerschreiben nach Brandanschlägen, die in dem Info- und Kopierladen von Lindenau angeblich vervielfältigt worden waren. Das Problem für die Polizei ist nur: Lindenau ist bisher selten verurteilt worden, weil ihm nicht zu beweisen ist, dass er den strafbaren Inhalt der vertriebenen Druckerzeugnisse persönlich kannte.
Auch in dem gestrigen Prozess obsiegte Lindenau auf ganzer Linie. Diesmal ging es um eine Ausgabe der radikalökologischen Zeitschrift Schwarzgrünes Gegengift. Genauer gesagt: um einen Bekennerbrief von radikalen Tierschützern in der Zeitschrift zu einem Brandanschlag auf einen niederländischen Schlachthof, bei dem im Juni 2000 fünf Lkws in Flammen aufgegangen waren. Weil er die Zeitschrift in seinem Laden angeboten hatte, wurde Lindenau Beihilfe zur Beihilfe zur Billigung von Straftaten vorgeworfen.
Wie häufig zuvor konnte dem Angeklagten aber auch gestern nicht nachgewiesen werden, dass er den Artikel im Schwarzgrünen Gegengift gekannt hatte. Angesichts der Vielzahl der von ihm verkauften Druckerzeugnisse sei nicht davon auszugehen, dass er stets einen inhaltlichen Überblick habe, so die Begründung des Richters. Für Lindenau hat der Freispruch weit über das gestrige Verfahren hinaus Bedeutung. Denn das Kreuzberger Gewerbeamt will ihm an den Kragen. Mit Hinweis auf eine Verurteilung von 1997 habe ihm das Amt im vergangenen Herbst den Entzug der Gewerbeerlaubnis angedroht, berichtete Lindenau gestern nach Prozessende.
Er wertet dies als weiteren Versuch der staatlichen Behörden, seinen Laden kaputtzumachen. Er denke aber gar nicht daran, sein breites Sortiment von über 100 Zeitschriften freiwillig im Sinne von Polizei und Gewerbeamt zu zensieren.
Er sei für eine offene Zensur, im Sinne einer Auseinandersetzung mit den Leuten über den Inhalt der Texte. „Fehlende Auseinandersetzung bedeutet Stillstand und macht reaktionär.“
PLUTONIA PLARRE
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