: Alltägliches Klima der Gewalt
Die Debatte um Joschka Fischer zeigt: Beim Thema Gewalt werden vor allem Klischees diskutiert. Gleichzeitig gelten viele Gewaltphänomene als völlig „normal“
Joschka Fischer muss man nicht verteidigen gegen aufgewärmte Vorwürfe, die sich auf seine Vergangenheit als Polizistenklopper beziehen. Die Tatsachen sind nicht neu, und seine Verteidigung besorgen Fischer und seine publizistische Gang schon selbst. Was Fischers Verdienste als Außenminister betrifft, so sind sie noch nicht zu übersehen. Eine Leistung jedoch kann dem Straßenkämpfer Fischer niemand absprechen: Als 1976 viele Frankfurter Spontis angesichts der rotierenden Gewaltspirale in Konfusion geraten waren und mit dem Abtauchen in den Untergrund liebäugelten, warnte sie Fischer auf einer Veranstaltung des „Sozialistischen Büros“ vor dem „Weg in die Selbstvernichtung“ und forderte die verblendeten RAF-Terroristen im Untergrund auf, „Schluss zu machen mit diesem Todestrip, runterzukommen von ihrer Selbstisolation, die Bomben wegzulegen und die Steine, und einen Widerstand, der ein anderes Leben meint, wieder aufzunehmen.“ Mit dieser Rede hat Fischer wohl mehr Menschenleben gerettet als in seiner Amtszeit als Minister.
Man kann die aktuelle Debatte als eine Kampagne nehmen und als Januar-Gag vergessen, oder man kann über Gewalt diskutieren. Aus der ernsthaften Debatte verabschiedete sich allerdings der ehemals linke Ex-Revoluzzer und heutige FAZ-Redakteur Thomas Schmid. Er verglich das Verhalten der Straßenkämpfer der 70er-Jahre mit dem „Geist der Väter“, von denen viele in Hitlers Krieg zu Mördern geworden waren: „Im Lob der Gewalt waren Väter und Söhne auf untergründige Weise einig.“ Dieser Satz ist so niederträchtig wie jener Heiner Geißlers, der die Pazifisten für Auschwitz verantwortlich machte.
Der Unterschied zwischen Fischers Rangeleien mit Polizisten und der Art, wie rechtsradikale Hooligans den französischen Gendarmen Daniel Nivel zurichteten, ist prinzipieller, nicht gradueller Natur. Ein Vergleich rechtsradikaler und linksradikaler Gewalt ist unredlich, wenn nicht unterschieden wird, wogegen und mit welchen Mitteln Menschen welche Formen von Gewalt ausübten. Dies kann Gewalttaten nicht aus der Welt schaffen, aber verstehen helfen, ohne dass zwangsläufig bagatellisiert wird. Die Erklärung von Gewalttaten als „hate crime“ („Hassverbrechen“) ist bestensfalls eine „poetische Einkleidung“ (Jacob Grimm) zur Kaschierung von Verlegenheiten. Was als vermeintlich sinnlose Gewalt junger Männer erscheint, ist die Antwort auf ein mit Gewalt gesättigtes Klima. Die Ursachen, die eine Gesellschaft latent gewalttätig machen, liegen zwar auch in den psychischen Dispositionen junger Männer, aber entscheidender sind – altmodisch gesprochen – die gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie umfassen viele Gewaltkomponenten: im wirtschaftlichen und sozialen Gefälle, in manifesten Ungerechtigkeiten, in autoritären Strukturen, im Geschlechterverhältnis und auch in den medialen Gewalt-Enthemmern.
In jeder Gesellschaft herrscht ein spezifisches Gewaltklima, und dieses beeinflusst Individuen, Gruppen und Institutionen – wenn auch nicht alle gleichmäßig. Gewalt wird man nicht begreifen, wenn man sie als ein Problem einzelner sozialer Gruppen oder Institutionen versteht. Gewalt resultiert überall aus vielerlei Ursachen – außer im Strafrecht mit seinen bequemen Abstraktionen. Dort gibt es immer eine klare Ursache für die Gewalt: die Täterin oder den Täter. Gegenüber der Vereinfachung im Strafrecht ist davon auszugehen, dass Gewalt ein auf komplizierte Weise entstandenes Produkt ist, weder allein einem Willensakt entspringend noch plötzlich ausbrechend.
Gewalt ist ein unscharfer Begriff. Grimms Wörterbuch benötigt für den Artikel „Gewalt“ – ohne Komposita – fast 200 Spalten. Der Begriff kann Beliebiges bezeichnen und lässt beliebige Interpretationen zu. Auch wenn man Gewalt arithmetisch proportioniert und zu homogenen Gewalt-Quanta formalisiert – wie etwa das Strafrecht – und zum Beispiel einfache, zweifache, dreifache, x-fache Gewalt unterscheidet, kommt man nicht weiter. Historisch, sozial und psychologisch bestimmte Gewaltformen erscheinen dann nur als ein Bruchteil oder ein Vielfaches von Gewalt im Allgemeinen, als ob es sich bei der Gewalt um ein homogenes Produkt handelte wie bei Zucker.
Zur Gewalt gehören auch jene Formen, die bereits als „normal“, also als Nicht-Gewalt gelten (wie Verkehrstote, die in keiner Gewaltstatistik auftauchen, oder die Folteropfer der französischen Armee im Algerienkrieg). Solche Formen der nicht als Gewalt verstandenen Gewalt entscheiden über das Gewaltklima in einer Gesellschaft mit. Es gehört zu den Herausforderungen des Themas Gewalt, sich von solchen kaschierenden „Normalitäten“ nicht irritieren zu lassen. Die Gewaltakzeptanz einer Gesellschaft lässt sich nur begreifen (und verändern!), wenn alle Formen von Gewalt untersucht werden.
Was geschieht mit der Gewalt, wenn sie den vielen entzogen und den wenigen zur Verwaltung und Anwendung übergeben wird? Zunächst ist ein sprachlicher Transformationsprozess fällig: In der Hand der wenigen erscheint Gewalt vom Blut befreit, ganz und gar gereinigt, positiviert zu staatlich verwalteter Ordnung, uniformiert zu Polizei und Armee. Am Ende dieser Positivierung steht ein staatliches Gewaltmonopol. Dieses verhüllt seine Herkunft, also seinen Gewaltkern, und präsentiert sich in der Aura von Ordnung. Ohne Zweifel beruhigt die Konzentration der Gewalt beim Staat – im Prinzip – das Gewaltgeschehen. Überzogen ist jedoch die Erwartung, der Prozess der Institutionalisierung der Gewalt laufe automatisch auf deren Rationalisierung hinaus – Rationalisierung verstanden im Doppelsinn von Beschränkung und vernunftgeleiteter Anwendung.
Im Umgang mit Gewalt herrscht vielmehr eine doppelte Buchführung, in der die Kosten oder Opfer der Gewalt mit hehren Zielen verrechnet werden. Im Artikel „Anatomie“ in der „Encyclopédie“ stellte Denis Diderot 1751 unter anderem folgende Überlegungen an: „Was bedeutet Humanität, wenn nicht eine gewöhnliche Disposition des Herzens, unsere Fähigkeiten zum Vorteil des Menschengeschlechts anzuwenden.“ Aus dieser Frage leitet er das Recht der Gesellschaft ab, einen Mörder lebendigen Leibes sezieren zu lassen, um dadurch der Menschheit dienliche Kenntnisse zu gewinnen. Das geschichtsphilosophische Kalkül: Der Tod des Verbrechers im Hörsaal vor den Augen aller medizinischen Kapazitäten ist für die Gesellschaft nützlicher als der simple Tod des Verbrechers unter den Augen von tausenden von Zuschauern auf dem Schafott. Schließlich erwägt Diderot, dem Delinquenten das Leben zu schenken, falls er das Experiment wider Erwarten überleben sollte.
Derlei Verrechnung von Gewalt mit hochgestimmten Zielen pflegten in den 70er-Jahren nicht nur Linksradikale, sondern auch die Staatsmacht im Namen von „Ruhe“ und „Ordnung“ sowie im Kampf gegen „Landfriedensbruch“ und für „Eigentumsschutz“. In den Köpfen Rechtsradikaler hat die Gewaltverrechnung überlebt – als dumpfe Beschwörung von „Ordnung“, „Nation“ und „Deutschland“ bei ihren gewalttätigen Angriffen auf Ausländer, Flüchtlinge und Obdachlose. Die Rechtsradikalen brüllen die nationalen Melodien nach, die ihnen aus der Mitte der Gesellschaft seit zehn Jahren leise vorgepfiffen wurden.
Jeder unvernagelte Blick auf die 70er-Jahre zeigt: Das Auftreten der uniformierten Staatsmacht gegen Demonstranten war oft von einer provozierenden Dumpfheit und Brutalität, das der zivilen Greiftrupps von blanker Willkür. Einige Linksradikale antworteten darauf mit einer handwerklichen Aufrüstung (Spatzenschleudern, Enterhaken, Kendo-Kampfstöcke), was Fischer 1976 als „blinden Aktionismus“ abkanzelte. Der Staat seinerseits leistete sich ein ganzes Arsenal von Gewalt-Accessoires und mutierte zum „Sicherheitsstaat“ (Joachim Hirsch).
Rechtsradikale Banden kopieren in Anspruch, Habitus und Auftreten das Original, die staatliche Macht: Sie präsentieren sich als uniformierte Männlichkeit im Dienste der Ordnung. Rechtsradikale marschieren mit Baseballschlägern, Trommeln und Fahnen zum Gefecht gegen Ausländer. Auch die terroristische RAF kopierte – rhetorisch großspurig – das staatliche Vorbild und ernannte sich gleich zur „Armee“.
Die Gewaltwahrnehmung des Staates folgte immer uneinheitlichen Kriterien. Radikaldemokratisch artikulierter Protest gegen die Flüchtlings- und Asylpolitik oder Atomprojekte ist verdächtig und stößt staatlicherseits auf härteren Widerstand als etwa die Randale von Hooligans oder die „normale“ Hetze gegen Ausländer. Gewalt betrifft nicht allein Täter, Opfer und Juristen. Was eine Gesellschaft als Gewalt akzeptiert oder bekämpft, tangiert alle. RUDOLF WALTHER
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