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Die den Misston vorgeben

Bundestagspräsident Thierse besucht Fußballi-Fans und ihre Beauftragten: Gesänge ertönen schneller als sie wieder verhallen  ■ Von Sandra Wilsdorf

Am Anfang sind die Artigkeiten: Wolfgang Thierse, Sozialdemokrat, Bundestagspräsident und Berliner, entschuldigt sich beim Besuch bei Fans und Fanbeauftragten von HSV und FC St. Pauli dafür, dass Hertha BSC am Sonntag beim HSV gesiegt hat. Und die Gastgeber danken für die sehr große Ehre des sehr hohen Besuchs. Aber dann gibt es klare Worte zum Thema Jugend, Gewalt und Fußball. „Die Zahl der Hooligans hat massiv abgenommen“, sagt Joachim Ranau vom HSV-Fanprojekt. Anfang der 90er Jahre wären es noch 300 bis 350 gewesen, jetzt noch maximal 50 bis 60. Denen würde der Nachwuchs fehlen. Das sei sicher auch ein Erfolg ihrer Arbeit, die immerhin dafür gesorgt hat, dass sich alle an einen Tisch setzen und das Problem gemeinsam bearbeiten.

Zugenommen habe aber die Gewalt außerhalb des Stadions, jenseits der Blitzlichtgewitter. „Wir haben vielleicht sieben bis zehn Hooligans, aber die Gewaltbereitschaft der anderen Gruppen hat zugenommen, das ist bundesweit so“, sagt auch Hendrik Lüttner vom Fanladen des FC St. Pauli. Und er beklagt: „Dafür fühlt sich außer den Fanprojekten niemand zuständig.“ Den Vereinen ginge es hauptsächlich darum, die Gewalt nicht in den Stadien explodieren zu lassen.

Wolfgang Thierse will wissen, wer Einfluss auf die „manchmal schauderhaften Gesänge nimmt“. Ranau erzählt, dass sich Schauerlichkeiten wie „Baut eine U-Bahn von St. Pauli nach Auschwitz“, schnell festsetzten, es aber lange dauerte, sie wieder von den Rängen zu verbannen. „Die meisten wissen doch gar nicht, was das bedeutet“, sagt HSV-Fan Jojo Liebnau. Alle sind sich einig: Es geht darum, die Zivilcourage der breiten Fan-Masse zu stärken.

Thierse fragt nach dem Einfluss der Rechtsextremen auf die Fans. „In den 80ern und auch in den 90ern gab es massive Anwerbeversuche, dagegen sind die meisten Jugendlichen immun“, sagt Ranau. Das Problem sei eher „die Definitionsmacht“, die beispielsweise 50 Skins in einer Fankurve nun einmal hätten. Die würden dann eben Ton und Gesang vorgeben. Ranau fordert wie sein Kollege Lüttner, dass die Vereine kritischer mit ihren eigenen Fans umgehen und dass sie dabei Rückhalt in den Institutionen finden sollten.

„Wir können uns den Mund fusselig reden, wenn Politiker wie der bayrische Innenminister von nützlichen und nicht nützlichen Ausländern reden oder ihr Parteikollege Otto Schily sagt, dass das Boot voll sei“, stellt Frank Steiler vom HSV-Fanprojekt fest. Oder wenn die Bahn nichts dagegen unternimmt, wenn auf den Bahnhöfen schwarz-rot-weiße Schals mit Aufdrucken wie „Deutschland, mein Vaterland“ verkauft werden und die Polizei dagegen keine Handhabe hat. Thierse widerspricht nicht.

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