: Den Staat aufessen
Das Geschrei um die Vergangenheit von Fischer und Trittin verweist pünktlichzum Preußenjahr auf dessen unseligste Tradition: Staatstreue bis ins Mark
Dejà vu. Eigentlich dachten wir, es seien doch ein paar Jährchen vergangen. Und dann war plötzlich doch alles wieder wie 1977: der Buback-Nachruf, die flammende Empörung der Selbstgerechten, die stammelnden Entschuldigungen früherer so genannter Sympathisanten.
Ich bin keine 68erin, sondern eine 77erin. Kaum etwas anderes hat meine Generation so geprägt wie die Auseinandersetzung um den Nachruf des Mescalero. 1979 haben wir die taz gegründet, weil wir nie wieder so schutzlos wie im Deutschen Herbst an der Wand stehen wollten; kurz darauf entstanden die Grünen. 1977 hatte die RAF von uns absolute Solidarisierung verlangt: „Mensch oder Schwein“, und der Staat absolute Distanzierung: „Staatsbürger oder Verbrecher“. Jeder Differenzierungsversuch wurde von einem geradezu totalitär agierenden Staatskartell aus verbeamteten und selbst ernannten Strafverfolgern rigide unterdrückt. Ein deutscher Konflikt, ein sehr deutscher. Er solle „Buße tun!“, rief im Bundestag die Protestantin Angela Merkel dem früheren Streetfighter Joschka Fischer zu. Jenseits der lächerlichen Pose einer themen- und glücklosen Oppositionschefin machen diese Worte deutlich, wie sehr Staatstreue in gewissen Kreisen geradezu religiös geprägt ist. In dieser Nation, die niemals eine konsequente Aufklärung und eine konsequente Trennung von Staat und Religion erlebt hat, gilt der Staat vielen immer noch als Heiligtum. „Der Staat hat keine Fehler gemacht“, bescheinigte die Ostdeutsche Merkel dem damaligen Westdeutschland, ohne zu merkeln, dass sie dabei nur eine weitere lustige Strophe des Liedchens „Die Partei hat immer Recht“ kreiert hatte.
Die Vergötterung des Staates ist, daran sei auch und gerade 300 Jahre nach der Selbstkrönung des ersten preußischen Königs erinnert, eine der widerwärtigsten preußischen Traditionen, die Millionen von Kriegstoten gefordert hat. Die Freiheit, eine der zentralen Ideen der europäischen Aufklärung, war nach ihrer preußischen Durchdeklinierung kaum wiederzuerkennen. Kants Spielart der Aufklärung warf für die Staatsbürger vor allem eins ab, von dem sie wahrhaft schon genug hatten: Pflichten. Dem staatsfrömmigen Hegel galt ausgerechnet der soldatisch disziplinierte Preußenstaat als Verkörperung des Weltgeistes.
Der deutsche Begriff von Freiheit sei so ganz anders als der sonst in Westeuropa vorherrschende, schwärmte im Ersten Weltkrieg der konservative Kulturphilosoph Ernst Troeltsch. Die hiesige Freiheit sei „nicht die Hervorbringung des Regierungswillens aus der Summierung der Einzelwillen und nicht die Kontrolle der Geschäftsführer durch den Auftraggeber, sondern die freie, bewusste, pflichtgemäße Hingabe an das durch Geschichte, Staat und Nation schon bestehende Ganze.“
Der deutsche Staat ist also nicht für die Bürger da, sondern die Bürger sind für den Staat da. Der Staat schützt nicht die Freiheit, sondern die Bürger verwirklichen Freiheit, indem sie sich wie eine Jungfer dem Staat hingeben. Das ist kein Gesellschaftsvertrag, der klare Grenzen zwischen den Einzelnen und dem Ganzen kennt, sondern eine Aufforderung, den Staat in das Innerste jeder Person einzulassen. Psychoanalytisch betrachtet ein klarer Fall von psychotischer Verschiebung der Körpergrenzen. Bürger, lasst euch durchdringen, Bürger, esst euren Staat, Bürger, werdet deutsch bis ins Knochenmark! Die Nazivorstellung vom deutschen Volkskörper, der von Parasiten befallen sei und mit Blut gereinigt werden müsse, war da nur eine konsequente Zuspitzung.
Seitdem findet das Thema seine Fortsetzung auf seltsamen Wegen. Die Deutschen seien anders krank als Menschen anderer Nationalität, stellten Ethnomediziner fest. Nach Beobachtung eines englischen Arztes fühlen sich viele unserer Landsleute immer dann gut behandelt, wenn sie an Apparate angeschlossen, also fremdbestimmt und fremdgesteuert werden.
Auch das deutsche Ausländerrecht ist von diesem Geiste. Zwar wurde das unselige Blutrecht von 1913 nun endlich von Rot-Grün abgeschafft. Aber dennoch ist der Katalog der Pflichten für Immigranten immer noch weit länger als der ihrer Rechte. Anderswo in Europa verlangt man von ihnen die Einhaltung der Gesetze. Hierzulande macht man es nicht unter dem Bekenntnis zu Rechtsstaat und Verfassungstreue, was weit mehr meint als die Summe der Gesetze.
Dabei ist es gerade diese deutsche Hundertprozentigkeit, die manche Menschen aus anderen Kulturen am meisten abstößt. Diese Unfähigkeit, eine deutliche Grenze zu ziehen zwischen innen und außen, privat und öffentlich. Dieser Sexualmasochismus gegenüber Beamten, Gesetzestexten und ideologischen Überbauten aller Art. Diese Überzeugung, dass Menschen bis ins Innerste durchtränkt sein müssen von ihren Ideen.
Selbst den deutschen Feminismus der Siebzigerjahre kann man als eine hübsche Variante dieser Hundertprozentigkeit betrachten. Die Debatten um Alice Schwarzers Buch „Der kleine Unterschied“ haben zumindest meinen persönlichen Reifeprozess zur Feministin um Jahre verzögert. Ich empfand es als Zumutung, meine Zugehörigkeit zur Frauenbewegung damit beweisen zu müssen, dass ich die sexuelle Penetration ablehnte. Ich empfand es als Zumutung, dass die geistig-feministische Durchdringung die körperliche ersetzen sollte. Zumal es an orgiastischer Literatur doch ein wenig fehlte.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Mir geht es nicht um eine Neuauflage der alten Platte des „deutschen Sonderwegs“ – jede Nation hat ihren Sonderweg und ihre seltsamen Rituale. Bleiben wir für dieses Mal bei der unsrigen: Die „Berufsverbote“ gingen in den Siebzigerjahren als deutsches Wort in den europäischen Wortschatz ein, weil es sie in dieser Form anderswo einfach nicht gab. Ein Zugführer, der wenige Wochen seines Lebens einer kommunistischen Splittergruppe angehört hatte, wurde aus dem Staatsdienst entfernt – er hätte die Lokomotive ja nach Moskau lenken können. Auch in der medialen Debatte um die Mescalero-Affäre waren die Hauptbeschuldigten nicht zufällig die verbeamteten, also die „besonders zur Staatstreue verpflichteten“ Hochschullehrer.
Manche distanzierten sich schon damals, andere überbieten sich darin heute. Ein Redakteur der Berliner Zeitung, der neulich keinen Unterschied mehr zwischen den nationalsozialistischen Studenten und der APO erkennen konnte, vergaß zu erwähnen, dass er 1977 aus der Gewerkschaft ausgeschlossen wurde, weil er bei der Staatstrauer um Buback nicht aufgestanden war. Und die früheren 68er in der Chefredaktion des Spiegels bestellten jetzt eine Titelgeschichte, die den Eindruck erweckt, dass eine Omi in den 70er-Jahren nicht über die Straße gehen konnte, ohne dass ihr die Mollis um die Ohren pfiffen. Traurig, dass das immer noch die normale deutsche Biografie zu sein scheint: erst 150 Prozent Identifizierung, dann 150 Prozent Distanzierung. UTE SCHEUB
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