: Luftdrehkreuz des Nordens
Kinderstube der Elbfische, Sauerstofflieferant, Rastplatz für Wasservögel: Das von Airbus bedrohte Mühlenberger Loch ist ein Ökosystem, das nicht zu ersetzen ist ■ Von Gernot Knödler
Hartmut Kausch hat den Teufel deutlich sichtbar an die Wand gemalt. Beim Erörterungstermin zur Airbus-Erweiterung ins Mühlenberger Loch hinein schloss der Süßwasser-Biologe seine Ausführungen mit den Worten: „Niemand, der das hier schriftlich Niedergelegte gehört oder gelesen hat, wird später einmal sagen können, er habe das nicht gewusst.“ Nicht gewusst, dass die Finkenwerder Elbbucht das allerletzte normal funktionierende Feuchtgebiet in der Süßwasserzone der Tide-Elbe ist.
Nirgendwo sonst liegen dort große Flachwasser- und Wattgebiete direkt nebeneinander. Nirgendwo sonst wird derart viel Biomasse und Sauerstoff produziert. Nirgendwo sonst werden derart viele junge Fische groß. Nirgendwo sonst finden Zugvögel einen vergleichbaren Rastplatz. Aus Sicht der Gewässerökologie sei das Mühlenberger Loch daher „unersetzbar“, sagt der Wissenschaftler vom Institut für Hydrologie und Fischereiwissenschaft der Universität Hamburg.
Die Finkenwerder Elbbucht ist nicht erst, wie es oft heißt, in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Landeplatz für Wasserflugzeuge ausgebaggert worden. Alte Landkarten und Fotos belegen ihre Existenz als Flachwasserzone bereits im 19. Jahrhundert. Zu seiner heutigen Form hat es sich allerdings erst nach dem Abdeichen der Alten Süderelbe 1962/63 entwi-ckelt und nach dem Bau des Leitdammes, der die Uferlinie des heutigen Airbus-Geländes verlängert. In dieser Zeit, insbesondere seit dem Bau des Leitdammes, ist das Flachwassergebiet zunehmend verlandet und teilweise zum Watt geworden. Im Tidebereich seiner Ränder gedeiht mit dem unscheinbaren Schierlings-Wasserfenchel eine Art, die nur an der Unterelbe vorkommt und so selten ist wie der Panda-Bär.
Weil der Wasserstand auf der 675 Hektar großen Fläche so niedrig ist und das Licht bis zum Boden durchdringt, gedeihen Algen hier besonders gut und bilden damit eine solide Basis für die Nahrungskette. Im Mühlenberger Loch und in der Hahnöfer Nebenelbe gibt es für Krebse, Fische und Vögel dreimal mehr pflanzliches Plankton zu fressen als im Hauptstrom. Die wiederholten Elbvertiefungen haben Kauschs Meinung nach wesentlich dazu beigetragen.
Denn der Strom, der von seiner Quelle bis nach Hamburg maximal drei Meter tief ist, springt im Hafen plötzlich auf 15,30 Meter hinab. Algen, die in diese Tiefe gewirbelt werden, erreicht nicht mehr genügend Licht für die Photosynthese. Sie sterben ab, wodurch sie als Nahrungs- und Sauerstoff-Produzenten ausfallen. Mehr noch: Ihre Verwesung kostet Sauerstoff und gilt als Ursache des ominösen „Sauerstofflochs“, das im Sommer die Fische kieloben die Elbe hinabtreiben lässt. „Während dieser Zeit ist das Mühlenberger Loch ein Refugium für die Fische“, sagt Kausch.
Jungen Fischen ist die Elbbucht sogar eine regelrechte Kinderstube, weil hier Würmer, Larven, Krebse und Süßwassergarnelen in großen Mengen darauf warten, gefressen zu werden. Die meiste Nahrung finden die Fischlein im schlickigen Osten der Elbbucht – gerade in dem Teil, der für die Flugzeug-Fabrik zugeschüttet werden soll. Allein von sechs Arten der Wurm-Familie der Naididen drängeln sich dort bis zu 300.000 Tiere auf einem Quadratmeter.
Im Mühlenberger Loch hat auch ein unscheinbarer Krebs, für den es nur den lateinischen Namen eurytemora affinis gibt, seine wichtigste Heimstatt. „Die Nahrungsbedingungen in der Elbe sind so schlecht geworden, dass eurytemora mit dem Brackwasser nicht mehr zurechtkommt“, sagt Kausch – obwohl der drei bis fünf Millimeter große Krebs eigentlich an das Brackwasser ab Glückstadt angepasst sei. Da schwelgt eurytemora lieber in der Finkenwerder Bucht.
Die Algen fressenden eurytemora werden ihrerseits von größeren Krebsen (Mysidaceen) oder von Fischlarven verspeist, die Fischlarven wiederum von den Garnelen und alle zusammen von den Fischen und den Vögeln. Mit 33 Süßwasser- und bis zu 13 Brackwasser-Fischarten ist das Mühlenberger Loch das fischarten-reichste Gebiet im Süßwasser-Abschnitt der Tide-Elbe. Neben Flunder, Zander, Aal und Stint haben Biologen sogar die auf der Roten Liste der bedrohten Tierarten stehende Finte entdeckt.
Unter den Vogelarten, die sich in der Elbbucht aufhalten, sind die Löffelenten, Krickenten und Zwergmöven so zahlreich, dass das Mühlenberger Loch für sie als Lebensraum von internationaler Bedeutung gilt: Nach Zählungen der Vogelkundler Alexander Mitschke und S. Garthe sind zwischen 1992 und 1997 jährlich bis zu 4600 Krickenten, 2000 Löffelenten und 1400 Zwergmöwen im Mühlenberger Loch gelandet. Dazu kommen national bedeutende Bestände an Kormoranen, Spießenten, Fluss- und Trauerseeschwalben sowie Lach-, Sturm-, Silber- und Mantelmöwen. Das Mühlenberger Loch gilt als eine der wichtigsten Drehscheiben des Vogelzuges in Norddeutschland.
Für die Löffel- und Krickenten ist in der Elbbucht die besondere Kombination von Watt- mit Flachwasserflächen attraktiv. Über flachem Wasser rudernd seiht zum Beispiel die Löffelente mit ihrem speziell geformten Schnabel Schwebeteilchen (Plankton) aus dem Wasser. „Der Wert des Mühlenberger Lochs als Rastgewässer resultiert nicht nur aus der hohen Nahrungsmenge“, schreibt Mitschke, „sondern auch aus der guten Nahrungsverfügbarkeit.“
Weil der Osten der Elbbucht so stark verschlickt sei, überschwemme die Flut das Watt nur langsam, so dass eine Übergangszone zwischen Schlickwatt und Flachwasser über das Gebiet wandere. „Vermutlich durch Aufwirbelung“, fänden die Enten dort besonders viel zu fressen.
Doch das Nahrungsangebot ist nicht der einzige Faktor, der die Finkenwerder Elbbucht für Zugvögel attraktiv macht. Dazu kommt seine Lage an der Orientierungslinie Elbe und seine Größe. Die Löffelente etwa flieht, sobald sich ihr ein potentieller Feind auf 400 bis 600 Meter nähert. Sollte Airbus Industries ausgerechnet das nahrungsreichste Fünftel des Feuchtgebietes verschlingen, müsste die Ente nonstop nach Spanien fliegen.
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