: Im Zweifel für das Musterkind
Innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelte sich die Rate der vorgeburtlichen Gendiagnostik. Während der Gen-Check des Ungeborenen mittlerweile fast schon zur Routine geworden ist, hinkt die humangenetische Beratung hinterher
von ANNETTE ROGALLA
Sonja Bader fühlte sich bedrängt, massiv sogar. Kein Besuch beim Gynäkologen verging, ohne dass sie sich anhören musste: Lassen Sie einen Chromosomentest machen – in ihrem Alter ist das notwendig.
Die schwangere Sonja Bader, damals 36, galt medizinisch als Hochrisikopatientin. Ihr Alter und die Tatsache, dass sie bereits einen Sohn mit einem Down-Syndrom hat, ängstigte den Doktor. Schließlich steigt das Risiko für Fehlbildungen ab dem 35. Lebensjahr stark an. Bader verzichtete auf die moderne Diagnostikmethoden. Blutuntersuchungen oder eine Fruchtwasserpunktion können Chromosomenanomalien früh anzeigen – was häufig zur Abtreibung des Fötus führt. Sonja Baders Tochter kam gesund zur Welt.
Routineuntersuchung
Kaum eine Schwangerschaft in Deutschland bleibt unbeobachtet. Mutterschaftsuntersuchungen gelten als Regeluntersuchung. Hochauflösende Ultraschallbilder senden bereits kurz nach der Befruchtung aussagekräftige Bilder vom werdenden Wesen. Fruchtwasseranalyse und Plazentabiopsie geben verlässliche Hinweise auf genetische und chromosonale Defekte. Die Wahrscheinlichkeit, ein Down-Kind zu bekommen, liegt für eine 35-jährige Frau statistisch bei 1 : 365. Die Gefahr, das Kind durch Test beziehungsweise nachfolgende Fehlgeburt zu verlieren, liegt um ein Vierfaches höher. Trotzdem schwören Ärzte und Frauen zunehmend auf die invasiven (eingreifenden) Untersuchungen.
Mindestens jedes zehnte Baby wird vor seiner Geburt genetisch geprüft. Das sind bereits doppelt soviele wie 1990. Zu diesem Ergebnis kommt eine Forschergruppe an der Universität Hamburg. Gemeinsam mit seinen KollegInnen Regine Kollek und Thomas Uhlemann wertete Gesundheitswissenschaftler Günter Feuerstein im Rahmen einer Technologiefolgenabschätzung anonymisierte Abrechnungsdaten von niedergelassenen Ärzten aus. „Wurden vor zehn Jahren pro 1.000 Lebendgeburten 49,6 vorgeburtliche Chromosomenuntersuchungen vorgenommen, waren es acht Jahre später schon 95,7 Analysen“, berichtet Feuerstein.
Es kommen noch viel mehr vorgecheckte Babies zur Welt. Feuerstein konnte nur Daten aus der gesetzlichen Krankenversicherung auswerten. Wie viele privat versicherte Frauen diese Untersuchnungen in Anspruch nehmen, ist unbekannt.
Die diagnostischen Möglichkeiten gauckeln eine Gesundheitsgarantie des Kindes vor. Selbst in ihren Lehrveranstaltungen trifft Molekularbiologin Regine Kollek, die gemeinsam mit Feuerstein zum Thema arbeitet, häufig Studenten, „die glauben, man könne durch eine Batterie vorgeburtlicher Tests sicherstellen, dass ein Kind hinterher auch gesund ist“. Weit gefehlt.
Nur vage Aussagen
„Erstens lassen sich nur wenige Krankheitsbilder wie etwa das Down-Syndrom vorhersagen, und zum anderen wissen Diagnostiker auch gar nicht, nach welchen Erbkrankheiten sie bei einem unauffälligen Embryo gezielt suchen sollen“, sagt Kollek, die auch dem Ethikbeirats beim Bundesgesundheitsministerium vorsitzt, jenem Gremium, das laut Spiegel der Bundeskanzler am liebsten abschaffen und durch einen eigenen Ethikrat ersetzen möchte.
Die Ergebnisse der pränatalen Diagnostik lassen sich nicht uneingeschränkt interpretieren. Mitunter sagt ein Test zwar aus, dass der Fötus eine Krankheit in sich trägt. Wie schwer sie ist oder wie sich das Krankheitsbild entwicklen wird, lässt sich jedoch nicht vorhersagen. Und nur drei Prozent der Behinderungen lassen sich mit den heutigen Methoden überhaupt feststellen. Trotzdem verfestigt sich der Glaube an die vage Aussagekraft der pränatalen Diagnostik.
In ihrer humangenetischen Sprechstunde an der Universität Bonn berät Elisabeth Mangold Frauen und Männer, die Eltern werden wollen. „Der Trend geht eindeutig zum gesunden Kind“, beobachtet die Fachärztin für Humangenetik. Dieser Wunsch ist so alt wie die Menschheit, aber Mangold bemerkt, dass der soziale Druck zunimmt gegenüber Frauen, die ein möglicherweise behindertes Kind erwarten. „So was braucht man heute nicht mehr auszutragen, hören die Frauen mit positivem Testergebnis oft von Ärzten, Freunden und Bekannten“, sagt Mangold.
Wer sich aus physischen oder psychischen Gründen nicht in der Lage fühlt, das Kind zu bekommen, kann noch in der späten Schwangerschaft abtreiben.
Wie viele Frauen diesen Weg wählen, belegt keine Statistik. „Aber häufig ist die Entscheidung für oder gegen ein Kind mit genetischer Veränderung schon gefallen, bevor die Betroffenen in die humangenetische Bratung kommen“, so die Humangenikerin Mangold. In diesen Fällen kann die Wissenschaftlerin nicht mehr tun, als „Mut zum Kind machen“ und darauf hinzuweisen, dass etwa das Krankheitsbild beim Downsyndrom sich sehr unterschiedlich ausprägen kann und nur etwa jedes zehnte der betroffenen Kinder lebenslang auf Hilfe angewiesen ist.
Wie wenig dieser Rat hilft, wissen die Behindertenverbände. In den vergangenen Jahren seien deutlich weniger Down-Kinder zur Welt gekommen, sagt die Lebenshilfe e. V. und bemerkt, dass sie wesentlich weniger Down-Kinder in ihren Einrichtungen betreuen muss. Genaue Zahlen jedoch liegen nicht vor, denn in der Bundesrepublik zählt das Downsyndrom nicht zu den meldepflichtigen Krankheiten, im Gegensatz zu Großbritannien. Dort ist der Rückgang der Down-Geburten durch die statistischen Daten sehr deutlich nachweisbar.
Etwa 80 Prozent aller Frauen im Risikoalter lassen sich in Deutschland pränatal untersuchen. Humangenetiker schätzen, dass bei einer Down-Diagnose in 98 Prozent aller Fälle abgetrieben wird.
Eine „Beruhigungspille“
Nicht nur Frauen im kritischen Alter wünschen sich ein garantiert gesundes Kind. Zunehmend lassen sich auch junge Schwangere testen. Angestiftet durch Ärzte und Medien verlangen auch sie nach mehr Diagnostik. Diese moderne Form der Familienplanung sieht der Leistungskatalog der Krankenkassen allerdings nur für Frauen ab 35 vor. Doch: „Bei einer Angstdiagnose aber tragen wir selbstverständlich die Kosten der Behandlung“, versichert ein Sprecher der Techniker-Krankenkasse. Die Großzügigkeit hat ihren Preis: Pro Fruchtwasseruntersuchung dürfen Ärzte in der Regel 1.000 Mark in Rechnung stellen.
Frauengesundheitsforscherin Irmgard Nippert von der Universität Münster, gewinnt der ungehemmten Testfreude viel Positives ab. Sie befragte 1.000 Schwangere, warum sie sich testen ließen. Nicht die Suche nach dem optimierten Menschen fand Nippert als Motiv, „sondern die Beruhigung“. Die Sicherheit, dass mit der Schwangerschaft soweit absehbar, alles in Ordnung ist. „In 95 Prozent der Fälle“, so Nippert, „erfüllt der Test diesen Anspruch.“ Frauen, die ruhigen Herzens schwanger sind, gehen auch gelassener durch die neun Monate.
Überhaupt, eine zwingende Wechselwirkung zwischen Chromosomentests und Schwangerschaftsabbrüchen kann Nippert nicht erkennen. Sie verweist auf eine noch nicht veröffentlichte Studie, die deutlich macht, dass intensive Beratung insgesamt doch dazu führt, dass weniger Frauen die Schwangerschaft abbrechen. Vier Jahre lang beobachteten Wissenschaftler acht Beratungszentren in Europa. Dabei wurde deutlich, dass der klinische Befund allein für einen Abruch nicht bedeutsam ist. Vielmehr kommt es auf die Qualifikation der Berater an.
In Zentren, in denen die Frauen nicht von einem Genetiker beraten wurden, fand Nippert eine Abbruchrate von bis zu 78 Prozent. In Beratungsstellen, in denen Frauen von profunden Genetikern betreut wurden, kam es im besten Fall zu keinem einzigen Abbruch. Nipperts Resümee: „Bei einer qualifizierten Beratung ist die Wahrscheinlichkeit um ein Sechsfaches höher, dass die Schwangerschaft ausgetragen wird.“
So gerne bundesdeutsche Ärzte Frauen zur pränatalen Diagnostik schicken, so wenig engagieren sie sich in der Beratung. Die Hamburger Forschungsgruppe um Günter Feuerstein zählte zwar die Verdopplung der Tests in den vergangenen zehn Jahren. „Aber die Zahl der abgerechneten genetischen Beratungen war weitaus geringer als die vorgeburtlichen Untersuchungen“, sagt Feuerstein.
Über die Folgen des gentechnischen Fortschritts aufzuklären, halten Mediziner wohl für vernachlässigenswert.
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