piwik no script img

Das Land, wo die Fleischblumen blühen

Von BSE hat noch kein argentinisches Rind je gehört. Warum also nicht mal auf eine Kuh zu den europäischsten Südamerikanern fliegen? Das Land bietet riesige Horizonte, grenzenlose Räume, diverse Klimazonen. Und man kann ungehemmt seiner Fleisches-Lust frönen – Erlebnistourismus der anderen Art

Das Rindfleisch ist dick, rosa, weichund zergeht einemauf der ZungeDer Club Medwird Rindfleisch-Erlebniscamps errichten

von FRANZOBEL

Kühe sind träge, unleidenschaftliche, verträumte Wesen. Nur im Frühling, wenn sie auf die Weide dürfen, führen sie Veitstänze auf, springen und jauchzen. Einen gut Teil ihres Lebens verbringen sie hinter elektrisch geladenen Zäunen. Das Erotischste der Kuh sind sicher ihre Nasenlöcher, weite Kreise frischer Rosahaut. Aber essen? Muss das sein? Früher dachte ich, das faserige, sich zwischen den Zähnen verfangende Fleisch wäre die Rache der Kühe für die Zäune. Aber mit einem Verbot bekommen sogar die abgeschmacktesten Dinge ihren Reiz. Ein leiser, süßer Hauch, von Tod erotisiert. Und Rindfleischessen, das ist heute so wie früher russisches Roulett, ein neues Bungee-Jumping, eine wirkliche Extremsportart. Unglückliche Liebespaare erschießen sich nicht mehr wie weiland Kleist, sie gehen auf einen Tafelspitz.

Genauso werden sich um die Schlachthöfe Rotlichtbezirke mit Fleischereien bilden, wird man am Straßenstrich in Netzstrümpfe und Negligees verpackte Rollbraten anbieten, in den Animierlokalen wird man Beinfleisch kochen, bei Beate Uhse gibt es ein aufblasbares Gummisteak mit Kräuterbuttergel, im Internet stehen Bilder von Fleischwettessen, und eine Reise in ein Land mit gesunden Kühen ist dann so etwas wie der neue Sextourismus.

Wo aber könnte dieses Rindfleisch-Malaysien sein? Ein Land, in dem man noch unbeschwert sein Steak lutschen kann, wo die Fleischblumen blühen? Amerika? Dort sind die Kühe derart hormondurchtränkt, dass auch die Fleischesser wie schwammige Kalbshaxen aussehen. In Indien birgt das Rindfleischessen andere, brachialere Gefahren. Australien hat Schafe, Asien keinen Platz, Afrika keine Weiden, bleibt nur noch Argentinien, wo man bei Lomograf nicht an russische Billigfotografie, sondern an Lomo, den Lendenbraten, denkt.

Also Argentinien, geografisch völlig im Abseits, zwischen zwei Ozeanen gelegen, in Wirklichkeit aber ein weltoffener Platz, international, maritim, kuhophil. Witold Gombrowicz hat über die europäischsten Südamerikaner schon vor fünfzig Jahren gemeint: „Im Argentinier schlummert die nebelhafte Vorahnung eines Imperiums, einst wird sein Land eine große Macht sein.“ Und mit dem Rindfleischskandal scheint es nun bald so weit zu kommen. Was früher das Silber war, bald ist es die Kuh.

Mit Chartermaschinen wird man die fleischnotständigen Europäer einfliegen, sie auf die Estanzias verfrachten, dass sie sich ihrem Genuss hingeben, Berge von blutig rohem, halbrohem und saftig gebratenem Fleisch in sich hineinwürgen, um nachher ein klein wenig so auszusehen wie die Menschen des kolumbianischen Malers Botero: kugelrund. „Fahren wir auf eine Kuh“ wird eine gebräuchliche Wendung, die Fleischgeilheit eine medizinisch anerkannte Neurose und die Argentinienreise bald so obligat wie vor hundert Jahren der Seebadaufenthalt für die Tuberkulosekranken. Der Club Med wird Rindfleisch-Erlebniscamps errichten.

Argentinier sind nervöse, leidenschaftliche und bauernschlaue Menschen, ganz das Gegenteil vom Rind. Riesige Horizonte, grenzenlose Räume, eine ungeheure Artenvielfalt, diverse Klimazonen. Büschel von Philodendren, Farne, Orchideen, gewaltige Gummibäume, Eukalyptus, Schmetterlinge, Gürteltiere, Beos. Argentinien, wo die Rindfleischkönige noch keine Figuren der Mythologie sind. 36 Millionen Menschen, von denen sich die Hälfte im Knoten Buenos Aires verfangen hat, 55 Millionen Kühe, meist schwarz wie Kohle, Fleischkühe, keine obszön drallen Euter, wie die Allgäuer oder Pinzgauer sie haben, schlanker, muskulöser und beweglicher. In den Alpen wirken die Kühe mit ihren Glocken und edelweißbestickten Bändern wie Kirchen auf Wanderschaft, wie eine Feldmessenmonstranz, dagegen sind sie in Argentinien wie nackte Heiden, pur und unbehauen.

Eine meiner schlimmsten Vorstellungen von Hölle ist es, mit vollem Bewusstsein und der ganzen Erinnerung als Kuh wiedergeboren zu werden. Doch sollte dies der Fall sein, so möge es um Himmels willen in Argentinien geschehen, wo es sommers keine Alpen zu ersteigen gilt, man nicht gemästet wird, nicht aus Tierliebe, sondern weil Mastfutter zu teuer ist, und es keine endlos langen Winter im Stall durchzustehen gilt. Die argentinischen Rinder werden von maronibraunen, rauchigen Menschen betreut, Gauchos. Sie regeln das Rinderleben, das wie eine Art Kindergarten für Kühe organisiert ist. Je nach Altersstufe kommen sie auf ein anderes Feld, um am Ende über eine hölzerne Rampe auf einen Lastwagen verladen und in die Sexindustrie gebracht zu werden. Ihr Wert ist ihr Gewicht.

Der einzige Wirtschaftszweig, der in Argentinien blüht, ist die Kriminalität – leider an der Börse nicht notiert. Hier kommt es vor, dass man im Taxi überfallen wird; Kidnapping, Organhandel, gestohlene Kinder, alles, was man sonst nur von „Aktenzeichen XY“ kennt, hier passiert es. Nicht umsonst wird Argentinien von den Einheimischen auch „Belindia“ genannt. Ein kleiner Teil ist reich, gepflegt und sicher wie Belgien, während der große Rest an Indien erinnert.

Aber diese paar Kruspeln und Flechsen wird man gerne schlucken, wenn man an die saftigen Steakziegel denkt, in deren Zubereitung die Argentinier absolute Meister sind. Mit grobem, ungereinigtem Salz werden diese fleischernen Pflastersteine eingerieben, bevor sie auf den Rost kommen. Das dauert dann etwas, deshalb gilt es, inzwischen allerlei Würste zu vertilgen, von denen vor allem die süßen, rosinenhaltigen spanischen Blutwürste zu empfehlen sind. Die normalen Bratwürste werden pur mit Brot verzehrt. Dem an Hot Dogs, Bosner und Currywurst gewöhnten Gaumen sei geraten, die heimlich mitgebrachten Zwiebelringe sowie die in der Jacke versteckten Senf-, Ketchup- und Salzgurkengläser nicht offen auf den Tisch zu stellen; das könnte der Argentinier, dem es um den puren Wurstgeschmack zu tun ist, als Beleidigung empfinden. Wurst!

Das Fleisch braucht noch immer, also gibt es zur Überbrückung ein blumiges Allerlei aus dem Innenraum der Kuh. Um sich vor plötzlicher Blümerantwerdung zu schützen, lässt man sich die Funktionen der einzelnen Teile besser erst nach dem Verzehr erklären: Drüsen, Därme, Nieren, Magen, Zunge, Kutteln etc. Dann ist es so weit, Blutstropfen wachsen aus der Fleischstraße, Blütezeit, das Steak ist reif, schon der erste Bissen eine Offenbarung: Ein lukullischer Höhepunkt, ein Fleisch und Blut gewordener Frühling. Das Fleisch ist dick, rosa, weich und zergeht einem auf der Zunge wie Schokolade in der Sonne. Das hat nichts mit den zähen, faserigen Kaumuskeltrainern europäischer Provenienz zu tun, eher gleicht es einem heißen Fleischsorbet. Pfeffer darüber, Rotwein dazu, und man versteht, warum der Argentinier darauf verzichtet hat, Kochen zu erlernen. Man vergräbt sich hier in der Meinung, dass eine Soße bloß dazu diene, den Geschmack eines schon schlecht gewordenen Fleischs zu übertünchen.

Wer nun noch immer nicht satt ist, bekommt als Nachspeise eine gallertartige, mit Kakao durchzogene Masse, die sich Dulce de Batata nennt. Nicht schlecht. Danach Zigarren. Und natürlich Wein, Wein, der schmeckt, als sei er von samtweichen, jungfräulichen Füßen getreten worden. Oder Mate, ein rauchig, leicht nach frischem Heu schmeckendes Aufgussgetränk, nach dem die meisten Argentinier süchtig sind. Überall sieht man sie mit Thermoskanne und Kalebasse ihr Nationalgetränk schlürfen, das man sonderbarerweise in öffentlichen Lokalen nicht bekommt. Wer Julio Cortázars „Rayuela“ gelesen hat, kann sich vielleicht erinnern.

Und auch wenn einem Europäer vom vielen Grünzeug schon die Ohren zugewachsen sind, empfiehlt es sich, das Gemüse zu probieren, damit man wieder weiß, wie eine Tomate, eine Gurke oder ein Salat schmecken kann und in vergangener, weit in der Kindheit zurückliegender Zeit wohl auch einmal geschmeckt hat. Gewächshäuser gibt es hier nicht. Nicht umsonst hat Argentinien in der Flagge eine Sonne. Eine Sonne, die aber auch für eine allerorts spürbare Wehmut entschädigen muss, eine Wehmut, die hier Tanz geworden ist und Tango heißt. Es ist die Klage über den Verlust der Heimat, über das Ausgerissensein, das Wurzellose. Das ewige Durch-den-Bandoneon-Fleischwolf-Drehen des Emigrantenleids.

Während man bei Brasilianern den Eindruck hat, jedes einzelne Wort (selbst bei Sätzen wie „Treten Sie beiseite. Ich lese ihnen Ihre Rechte vor“) ist ein Orgasmus, ist der Argentinier melancholisch. Der Tango ist wie ein Kübel voller Krustentiere. Ein Skorpiontanz, der an die technischen Darbietungen in Animierlokalen erinnert. Mit unbewegter Miene werden eindeutige, aber oft recht komplizierte Schritte in den Schritt gemacht, als wollte man das Sich-ins-eigene-Fleisch-Schneiden darstellen. Tango, das ist getanzter Tod, ein Besingen des Untergangs. Da kommen BSE und der neue Rindfleischgoldrausch gerade recht.

Der Autor, 1967 geboren, lebt als Schriftsteller in Wien. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Scala Santa oder Josefine Wurznbachers Höhepunkt“. In Argentinien hält sich Franzobel häufig und gern auf.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen