: Der Wahn trieb ihn zum Reichstag
Versuchter Brandanschlag auf das Parlamentsgebäude: Verwirrter Mann muss sich seit gestern vor Gericht verantworten. Im Mittelpunkt des Prozesses steht, ob der 22-Jährige weiterhin in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik untergebracht wird
von PLUTONIA PLARRE
Für die Boulevardzeitungen war es ein Anschlag der Superlative: „Feuerattentat auf Reichstag“ titelte die BZ. Der Kurier wusste es noch genauer: „Mit Autobombe in den Eingang – Mann wollte Reichstag sprengen“. Von alldem findet sich in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft kein Wort: Versuchte Brandstiftung und versuchte Sachbeschädigung lauten die Vorwürfe gegen den mutmaßlichen Täter, der sich seit gestern vor dem Landgericht verantworten muss.
Der Vorfall hatte sich in den frühen Abendstunden des 18. September 2000 ereignet. Der 22-jährige Anlagenmonteur Stephan G. aus Magdeburg war mit einem roten Ford Fiesta an der Ostseite des Reichstags über die Rampe zum Eingang hochgefahren. Nachdem das Auto an der gläsernen Pforte zum Stehen gekommen war, hatte G. versucht, den Wagen mit einer Schreckschusspistole in Brand zu setzen. Zuvor hatte er über die Polster Benzin gegossen. Die aufgesetzte Leuchtpatrone fiel jedoch ab – und nichts passierte. Sogleich wurde der neben seinem Wagen stehende Mann von Sicherheitsbeamten überwältigt. Schnell war klar, dass er wegen großer psychischer Probleme bis zum Prozess in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden muss. Im Mittelpunkt der Verhandlung steht nun die Frage, was mit Stephan G. geschehen soll. „Ich wollte auf meine Probleme aufmerksam machen“, sagte der Angeklagte, ein kleiner, untersetzter Mann, gestern in breitestem Sächsisch. Seit er mit Psychopharmaka behandelt werde, gehe es ihm wesentlich besser. Er habe Wahnvorstellungen gehabt. Zum Beispiel habe er geglaubt, den Cityroller und den grünen Punkt auf der Umweltverpackung entwickelt zu haben. „Er fühlte sich als Ideengeber für einen ganzen Konzern“, sagte der psychiatrische Sachverständige. Stephan G. habe sich eingebildet, seine Gedanken würden abgehört, er würde um Lohn und Ruhm für seine Erfindungen betrogen. Um seine Situation zu klären, sei er zum Reichstag gefahren. „Er hatte das Gefühl, dass die Politiker an dem Komplott beteiligt sind und ihre eigenen Taschen füllen.“
Die Wahnvorstellungen hatten in den vergangenen zweieinhalb Jahren immer mehr zugenommen. Unmittelbare Leidtragende war eine 20-jährige angehende Krankenschwester aus Magdeburg, der Stephan G. mit hartnäckiger Penetranz nachstellte. „Er lauerte mir auf und verfolgte mich, ich habe mich kaum noch aus dem Haus getraut“, sagte die junge Frau gestern vor Gericht. Sie habe sich beimVater von G. beschwert, „aber der wollte eigentlich nichts davon wissen“. Auch die Polizei habe eine Anzeige zurückgewiesen, weil noch nichts passiert sei. Nach Ansicht des psychiatrischen Sachverständige hätten die verantwortlichen Behörden und die Umgebung von G. „in grotesker Weise versagt“. Zu der Tat vor dem Reichstag hätte es nicht kommen müssen: „Es war ein einziger Hilferuf.“
Bis zum kommenden Prozesstag am Mittwoch will das Gericht klären, ob G. in ein psychiatrisches Krankenhaus nach Magdeburg verlegt werden und von diesem nach einer eventuellen Freilassung gegebenenfalls ambulant behandelt werden kann.
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