: Passkontrolle statt Notfallhilfe
Russische Menschenrechtler machen den Militärs schwere Vorwürfe. Die Soldaten hätten den schwer verletzten Pazifisten Popkow in Tschetschenien an einer Kontrolle festgehalten. Das Opfer eines Attentats liegt noch im Koma
BERLIN taz ■ In Zusammenhang mit dem Mordanschlag auf den russischen Menschenrechtler und Pazifisten Wiktor Popkow in Tschetschenien erhebt Swetlana Gannuschkina, Vorsitzende der Flüchtlingsorganisation „Zivile Unterstützung“ und Aktivistin der Moskauer Menschenrechtsorganisation „Memorial“, schwere Vorwürfe gegen die Militärs. „Anstatt die schwer verletzten Opfer des Anschlages sofort zu einem Arzt zu bringen, haben die Soldaten am Kontrollpunkt eine ganze Stunde lang deren Pässe überprüft“, sagte Gannuschkina gegenüber der taz.
Gemeinsam mit Rosa Musarowa, Ärztin des Krankenhaus Nr. 9 in Grosni, hatte Popkow in der vergangenen Woche im Auftrag der „Zivilen Unterstützung“ Medikamente und Hilfsgüter in tschetschenische Bergdörfer gebracht. Bei Verlassen des Dorfes Alchan-Kala am Mittwoch vergangener Woche waren die beiden und ihr Fahrer beschossen worden. Dabei erlitt Wiktor Popkow eine Kopfverletzung an der Schlagader, an Ober- und Unterkiefer. Rosa Musarowa wurde in Lunge und Leber getroffen, der Fahrer durch einen Streifschuss am Kopf verletzt.
Derzeit befindet sich Popkow im Militärkrankenhaus von Wladikawkas. Nach Angaben von Swetlana Gannuschkina liegt er noch im Koma. Die Ärzte planen eine schwierige Kopfoperation, warten jedoch ab, bis sich sein Zustand gebessert hat. „Wenn es gelingt, Popkow aus dem Koma zu holen, werden wir eine Schädelöffnung durchführen“, sagte der Chefarzt des Militärkrankenhauses von Wladikawkas, Igor Brokin, der russischen Tageszeitung Nowaja Gaseta.
Popkow hatte sich mit seinem entschiedenen Eintreten gegen den Tschetschenienkrieg den Zorn der Machthaber zugezogen. Im April vergangenen Jahres hatte sein Interview mit Tschetscheniens Präsident Aslan Maschadow in der Nowaja Gaseta für Ärger gesorgt und Popkow eine Vorladung zur Staatsanwaltschaft und eine Verwarnung des Presseministeriums eingebracht. Popkow und die Nowaja Gaseta waren gerichtlich gegen diese Verwarnung vorgegangen – und hatten das Verfahren gewonnen. Wjatscheslaw Ismailow, der während des ersten Tschetschenienkrieges als Offizier auf der Seite der Russen gekämpft hatte und heute Militärredakteur der Nowaja Gaseta ist, schreibt in der jüngsten Ausgabe: „Wiktor Popkow ist einer der Menschen, die Fremden ihre letzte Kopeke schenken, auch wenn sie selbst nicht einmal mehr Brot im Haus haben. Im ersten und zweiten Tschetschenienkrieg war Popkow immer vor Ort, versorgte die Dörfer mit Lebensmittellieferungen, scheute sich nicht, Orte aufzusuchen, in die sich schon lange keine internationale Hilfsorganisation mehr gewagt hatte.“
Ismailow vermeidet es, über die Täter des Attentates zu mutmaßen. Zwar gebe zu denken, dass aus dem Dorf, in dessen Nähe sich das Attentat ereignet hatte, einer der grausamsten tschetschenischen Feldkommandeure, Arbi Barajew, stamme. Doch angesichts der wenig zimperlichen Vorgehensweise der russischen Geheimdienste gegenüber Menschenrechtlern, Journalisten und Vertretern von internationalen Hilfsorganisationen sollte man sich vor vorschnellen Schlüssen hüten.
Und eigentlich sollten gerade die Militärs Popkow dankbar sein. Dank seiner guten Kontakte zu Maschadow und anderen Machthabenden in Tschetschenien ist es ihm in den beiden Tschetschenienkriegen gelungen, die Freilassung unzähliger russischer Kriegsgefangener zu erwirken. BERNHARD CLASEN
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