: Christians Abschied
„Mein Leben ist Scheiße. Hauptsächlich, weil mich die rechtsradikalen Arschlöcher in der Schule andauernd verprügeln“
aus Wozinkel THOMAS GERLACH
Der Sand fällt nicht ins Grab. Er rinnt durch die Hand, Wind trägt ihn fort, er klebt an den Fingern – ins Grab fällt er nicht. Zwei Schülerinnen fassen sich bei den Händen, schauen in die Grube, wo Christian im Sarg liegt. Sie stehen da und stehen und greifen endlich zum Sand – der wie ein Seidentuch fortweht. Klassenlehrerin, Direktor, Schüler – nacheinander treten sie an, gehen hinauf auf den kleinen Hügel. Christians Eltern sind unter die Blutbuche gegangen, starren aus der Ferne wie auf Eindringlinge. „Braune Brut! Braune Brut! Braune Brut!“, zischt die Mutter inständig und leise, die Arme wie ein Schild vor die Brust gekreuzt. Die Worte hören wenige, die Geste sehen alle. Die Schüler, die Lehrerin, der Direktor stehen still, ihre Arme nach unten, als wären sie angetreten zum Appell.
Vor zwölf Tagen hat Christian zu Haus in Wozinkel, einem kleinen Dorf bei Parchim in Mecklenburg-Vorpommern, Zettel und Bleistift genommen: „An meine Freunde, Eltern und Bekannten! Das hier wird mein letztes Geschriebenes sein, weil ich mich erhängen werde. Mein Leben ist Scheiße. Kaum Freunde, schlechte Noten. Hauptsächlich aber, weil mich die großen rechtsradikalen Arschlöcher in meiner Schule andauernd verprügeln.“ Danach hat sich der 13-Jährige in der Scheune mit Benzin übergossen und ist mit einem Strick ins Haus gegangen. Seine Eltern waren beim Einkauf. Als sie kamen, roch es nach verbranntem Benzin, Christian fanden sie unter der Treppe hängen.
An der Kirchenmauer tanzen Wespen, das Grab ist noch offen. Kirche und Friedhof von Grebbin, zu dem Wozinkel gehört, liegen auf einer Anhöhe, drei Ausgänge führen ins Dorf, wer will, kann sich aus dem Weg gehen. „Wie war’s auf der Beerdigung?“ Trostlos. „Ich musste heute arbeiten“, sagt eine Mutter. Wer Arbeit hat, hat eine Entschuldigung. „Der Christian, das war ein schöner Junge. Der war . . .“ Kurzes Zögern, „. . . der war anders. Christian hat viel geredet.“ Den musste man bremsen. „Christian!“ Sie ruft den Namen, als wollte sie den Jungen noch zurückhalten. „Vielleicht hat er in der Schule zu wenig gesagt?“ Vielleicht. „Das mit den schlechten Zensuren stimmt nicht. Aber vielleicht ist er ja in den letzten Wochen stiller geworden? Ein guter Lehrer merkt so was.“ Die aus seiner Klasse seien das nicht gewesen, und depressiv war Christian auch nicht. „Natürlich gibt’s Gewalt. Die Schule hat keinen guten Ruf.“ Sie selbst sei dem Schulbus schon hinterhergefahren, um zu beobachten, was die Älteren auf der Fahrt mit den Jüngeren treiben. Sie habe in der Pause den Schulhof beobachtet und gesehen, wie ältere Schüler die jüngeren unter Drohungen zum Rauchen zwangen. Die Lehrer haben dann die Jüngeren erwischt.
Nein, von ihren Recherchen waren die Lehrer nicht erbaut. Und die eigenen Kinder auch nicht. „Du fährst wieder zurück – wir müssen da jeden Tag hingehen, haben die mir gesagt.“ Hinterher ist alles noch schlimmer. „Und die Lehrer sind wohl überfordert.“ In der Grundstufe kam es vor, dass Kinder mit Fingern auf den zeigen und auslachen, der nicht aufpasst. Auf Geheiß der Lehrerin. „Ich bin hingefahren und hab mit der Lehrerin gesprochen.“ Mag sein, dass das nun nicht mehr passiert.
Im Pfarrgarten steht eine Blutbuche, groß und schön wie die Schwester auf dem Friedhof. „Ich hab doch nicht gedacht, dass das hier so rechtsgerichtet ist!“, sagt der Pfarrer. Er sitzt auf der Treppe zum Garten. „Aus dem Asylbewerberheim hat mich eine junge Kosovoalbanerin angesprochen, die hier eine Freundin sucht.“ Er sei zu einer jungen Frau gegangen und habe ihr das erzählt. „Aber Herr Pfarrer, wissen Sie denn nicht, was das hier für eine Gegend ist?“ Sie habe nichts gegen Asylbewerber. „Aber wenn das rauskommt, dass sie mit einer Albanerin befreundet ist.“ Nein, das ginge nicht.
Der Pfarrer schüttelt den Kopf, faltet die Hände. Vor zwei Stunden hat er Christian beerdigt. Er hat in der halbleeren Kirche die Ansprache gehalten, hat mit Worten das Gewölbe erfüllt, hat die Stimme zur Klage gedehnt und wieder und wieder die Solidarität beschworen, die nun die Eltern erreichen möge. Der Vater saß auf der vordersten Bank im dünnen kurzärmligen Hemd, als ob irgendwo ein Feuer brennte.
Im Amtszimmer stehen zwei Panoramapuzzles groß wie Poster, der Pfarrer kommt mit einer dicken Mappe heraus, ein Zettel klebt obenauf: „Aktion Giftgrube“. Hinterm Dorf liegt ein altes NVA-Gelände, über 20 Hektar, eingezäunt, mit Erdwällen abgeschirmt. Vor über 16 Jahren zog von dort ein weißer stinkender Nebel über das Dorf. Seitdem forscht der Pfarrer, was es damit auf sich hatte, vermutet unterirdische Räume, chemische Kampfstoffe, Raketen. Er schüttelt den Kopf. Die Unzahl von Schreiben, die Anzeigen und die Antworten, der Pfarrer lacht kurz auf. Kein Ergebnis. Es gibt gewiss einige in Parchim und Schwerin, die den Pastor für meschugge halten.
Das Gelände ist geräumt, vor Monaten öffnete ein Pächter einen „Reiterhof“. Danach zogen Skins durchs Dorf hin zum Gelände, schrien „Heil Hitler!“, rüttelten an Zäunen und feierten im Schutz der Erdwälle ein Wochenende lang. Lautsprechergedröhn zog über Grebbin wie damals der Nebel. Eine Frau rief die Polizei. Ruhestörung? Dafür sei das Ordnungsamt zuständig. Und die Anruferin bekam den Rat, vorsichtig zu sein. Die Rechten könnten herausbekommen, wer zum Telefon greift. Die Polizei fährt wieder weg, wenn sie denn kommt, die Menschen müssen bleiben.
Der Pfarrer schrieb im Februar an den Innenminister in Schwerin: „Ich bin in großer Sorge, dass sich NPD-Leute zu diesen [unterirdischen] Räumen Zugang verschaffen könnten und dass sie dort eines Tages unbemerkt Menschen, die ihrem Feindbild entsprechen, verschwinden lassen.“ Der Innenminister ließ antworten. „Zu Ihrer Beruhigung kann ich Ihnen mitteilen, dass die Aktivitäten der NPD auf dem Reiterhof Grebbin den Sicherheitsbehörden des Landes bekannt sind und aufmerksam beobachtet werden.“ Man wirke auf die Beendigung dieser Aktivitäten hin. Der „Reiterhof“ ist offenbar geschlossen. Halbwüchsige treiben sich dort jetzt herum. Manchmal tragen sie Tarnanzüge.
Die Schule im Nachbardorf ist gesichert. Türen verschlossen, Klingel defekt, die Sekretärin wiegelt ab: „Ich kann Ihnen gleich sagen, der Direktor gibt keine Auskunft. Wenden Sie sich an das Kultusministerium in Schwerin.“ Sie nickt. Ja, das mit Christian sei schlimm. „Wir hoffen, dass Ruhe einkehrt, jetzt, wo die Beerdigung gewesen ist.“
Zu beiden Seiten der Dorfstraße stehen mächtige Eichen, die Schulbushaltestelle ist leer. „Hast Du in Deinem Garten eine deutsche Eiche stehen, möcht’ ich . . .“ Kein Name, bloß ein paar Punkte „. . . daran hängen seh’n.“ Schülerreime, Geschmiere, da schaut keiner mehr hin, die Lehrer fahren mit Autos.
„Es ist wahrscheinlich nicht auszuschließen, dass Christian mit Gewalt konfrontiert wurde“, sagt der Direktor. Er steht vor der Schule und redet nun doch, ein hagerer Mann. Das mit der Gewalt sei schwierig. Wenn er auf den Hof komme, passiere nichts, vielen Kollegen gehe es so. Man sei jedoch auf einem guten Weg gewesen, um Schlimmes zu verhindern. Bis vor zwei Jahren habe es eine Sozialarbeiterin gegeben. Die AB- Maßnahme sei ausgelaufen. Außerdem führten die Schulzusammenlegungen dazu, dass sich die 250 Schüler untereinander immer weniger kennen. Stattdessen bilden sich immer mehr Cliquen. Der Direktor redet, als ob eine Kamera mitläuft, Schüler grüßen höflich. Ja, es gebe jetzt einen Vertrauenslehrer. „Die Schüler haben den Wunsch geäußert.“ Jetzt erst? Ja, sagt er, man könne doch so etwas nicht verordnen.
Zu Haus in Wozinkel steht Christians Mountainbike, sauber, leuchtend blau und ohne Kratzer. Christians Vater schaut in die Scheune, Maurerkellen, Meißel, Hämmer sind akkurat aufgereiht, er trägt wieder das kurzärmlige Hemd. „Christian hat begonnen, einen Fischereischein zu machen. Wir haben ihm am Tag zuvor Schuhe gekauft. Und dann so was?“ Er ist auf den Hof gegangen. „Das passt doch nicht?“
Das Haus steht einzeln, zum Nachbarn ist es weit, zwischen den Grundstücken wogt Roggen, bald wird er stauben und blühen. Zwei Wochen vor seinem Tod kam Christian beim Abendbrot mit einem Gedicht. „Die Gewalt“ von Erich Fried. Hier, lies das mal! – Ja, Christian, lass mich doch erst mal essen. „Die Gewalt fängt nicht an, wenn einer einen erwürgt. Sie fängt an, wenn einer sagt: Ich liebe dich: Du gehörst mir!“ Christian hat gedrängelt: Lies das! – Wer hat denn das geahnt? Neben dem Haus hat der Vater einen Mammutbaum gepflanzt: Christian, der wird noch stehen, wenn wir beide nicht mehr sind. Hinterm Haus zieht es. „Ja, hier pfeift immer der Wind“, sagt der Vater. Und plötzlich: „Wenn die Lehrer nicht in der Lage sind, auf mein Kind aufzupassen, müssen sie weg!“ Steif und abgehackt kommen die Wörter, steif und fest steht sein Körper. „Ich will mit dem Finger auf die Lehrer zeigen!“ Sein Finger stößt nach unten, wieder und wieder.
In Christians Zimmer liegt das Gedicht, das sie in der Schule behandelt haben: „Die Gewalt kann man vielleicht nie mit Gewalt überwinden aber vielleicht auch nicht immer ohne Gewalt.“ Manchmal auch gegen sich selbst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen