Mordsache Mercedes-Benz

Während der argentinischen Militärdiktatur verschwanden in einem Mercedes-Benz-Werk 14 Betriebsratsmitglieder. Jetzt versucht ein Wahrheitstribunal, Licht in die Sache zu bringen. Das könnte für Mercedes unangenehme Folgen haben

aus La Plata INGO MALCHER

Schüchtern und mit gebeugtem Rücken sitzt Hector Ratto im Zeugenstand des Wahrheitstribunals in La Plata, der Hauptstadt der Provinz Buenos Aires. Über dem Baumwollhemd trägt er eine grüne Wollweste, das schüttere dunkelgraue Haar hat er nach hinten gekämmt. Der ehemalige Betriebsrat im Mercedes-Werk von Gonzalez Catán bemüht sich so deutlich wie möglich zu sprechen, seine Lippen kleben fast am Mikrofon. Leise und langsam klingen seine Sätze aus den Lautsprechern in den prunkvollen Gerichtssaal. Ratto will sich nicht aufdrängen. Erst auf mehrfache Nachfrage erzählt er, wie ihn die Militärs nach seiner Festnahme in dem berüchtigten Gefangenenlager Campo de Mayo mit Elektroschocks folterten. „Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich die Kapuze, die sie mir übergezogen hatten, nicht vom Gesicht ziehen können, meine Arme waren taub“, schildert er.

„Haben Sie andere Betriebsratskollegen von Mercedes im Lager gesehen“, will Richter Leopoldo Schiffrin wissen. „Gesehen nicht, aber ihre Stimmen gehört.“ Von wem? „Von Núñez und anderen.“ Auch von Reimer? „Nein, von Reimer nicht.“ Um ihn, Esteban Reimer, geht es in diesem Verfahren vor dem Wahrheitstribunal im argentinischen La Plata. Reimer wurde in der Nacht vom 5. Januar 1977 gegen fünf Uhr morgens von den Militärs zu Hause abgeholt. Bis heute gilt er als verschwunden, wie tausende andere, die unter der Diktatur (1976–1983) von den Militärs verschleppt wurden. Reimer war wie Ratto Betriebsrat im Mercedes-Werk González Catán in der Provinz Buenos Aires.

Der Fall Reimer könnte in La Plata zu mehr führen als nur zur Aufklärung des Schicksals eines einzelnen Verschwundenen. Im Mercedes-Werk von González Catán verschwanden mindestens 14 Mitglieder des unabhängigen Betriebsrates. Um herauszufinden, was damals geschah, hat Richter Schiffrin als Zeugen neben Ratto noch einen weiteren ehemaligen Betriebsrat und die deutsche Journalistin Gaby Weber geladen, die ein Buch über die Vorgänge bei Mercedes geschrieben hat*. Beihilfe zum Mord lautet der Vorwurf der überlebenden Betriebsräte gegen Mercedes-Benz. Anders als die argentinischen Militärs werden die Mercedes-Manager in Buenos Aires nicht durch die Amnestiegesetze geschützt. So könnte das Verfahren durchaus strafrechtliche Folgen haben. „Es geht darum, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen und dann die Ergebnisse dem Staatsanwalt weiterzugeben“, sagt Schiffrin. Er überlegt zurzeit, ob er den ehemaligen Betriebsleiter Juan Tasselkraut vorladen soll.

Es war am Nachmittag des 12. Augusts 1977, als Hector Ratto in das Büro von Tasselkraut gerufen wurde, wo zwei Zivilpolizisten auf ihn warteten. Plötzlich klingelte das Telefon, Tasselkraut wurde etwas durchgegeben. Danach rief er den Sicherheitsbeamten mit lauter Stimme die Adresse von Rattos Betriebsratskollegen Diego Núñez zu. „Ich glaube, es war noch in derselben Nacht, dass Núñez von den Militärs entführt wurde“, berichtet Ratto, der im Gefangenenlager nur Núñez’ Stimme gehört hat, ihn aber nicht sehen konnte. Ratto wurde ebenfalls in dieser Nacht verschleppt.

Der Saal in La Plata ist halb leer. Einige Mütter von Verschwundenen hören zu, einige Jugendliche aus Menschenrechtsgruppen, viele lokale Journalisten. Kein Beobachter von DaimlerChrysler. Ratto will so tun, als spräche er von Selbstverständlichkeiten. Als ob sich irgendjemand im Saal die Schmerzen und die Angst vorstellen könnte, die er durchlitten hat. Ratto sitzt unbeweglich im Zeugenstand. Er ist konzentriert, spricht mit monotoner Stimme. Er kam freiwillig. Es geht ihm um die Aufklärung des Falls.

Schon zweimal hat Ratto ausgesagt. Beim ersten Mal, kurz nachdem die Militärs abgedankt hatten, ging es nur darum, die Namen der Mitgefangenen zu nennen, um sie identifizieren zu können. Beim zweiten Mal war Ratto Zeuge in dem großen Prozess gegen die Militärjunta. Die Militärs wurden zu lebenslanger Haft verurteilt und 1990 von dem damaligen Präsidenten Carlos Menem begnadigt.

Heute arbeitet Ratto in einem kleinen Metallverarbeitungsbetrieb. Er korrigiert sich, er arbeite dort nicht, er „überlebt“ dort. Der Lohn ist schlecht, wenn er überhaupt gezahlt wird. Die Klitsche ist ständig am Rand des wirtschaftlichen Ruins. Tasselkraut arbeitet immer noch im DaimlerChrysler-Werk von González Catán. Als Produktionschef.

* Gaby Weber: „Die Verschwundenen von Mercedes-Benz“. Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 2001