piwik no script img

Hinter den Mauern des Schweigens

In Marokko ist eine Debatte über die „bleiernen Jahre“ des vor zwei Jahren verstorbenen Königs Hassan II. ausgebrochen. Der Anlass: Ein ehemaliger Geheimdienstler hat berichtet, wie 1965 der führende Oppositionelle Ben Barka zu Tode kam

von REINER WANDLER

Bachir Ben Barka ist empört. „Die Staatsräson darf nicht immer vorgeschoben werden, um den Zugang zu Dokumenten zu verweigern“, wettert er. Der Sohn des 1965 in Paris verschwundenen führenden marokkanischen Oppositionellen Mehdi Ben Barka will endlich die ganze Wahrheit über den Tod seines Vaters wissen. Jahrzehntelang stieß er bei marokkanischen Behörden, Franzosen und CIA auf Schweigen. Jetzt hat Bachir doch erfahren, was mit seinem Vater geschah, nachdem er am 29. Oktober 1965 um 12.30 Uhr vor einem Café in Paris in ein französisches Polizeiauto stieg.

Die marokkanische Wochenzeitung Le Journal und die französische Tageszeitung Le Monde ließen Ende Juni einen ehemaligen marokkanischen Geheimdienstler zu Wort kommen, der an der Operation beteiligt war. Demnach wurde Ben Barka, ein international anerkannter Sozialistenführer, im Auftrag des marokkanischen Königs Hassan II. entführt und in einem Landhaus außerhalb von Paris zu Tode gefoltert. Der Leichnam wurde in einem Militärflugzeug in die marokkanischen Hauptstadt Rabat gebracht und dort in Säure aufgelöst. Der Exgeheimdienstler Boukhari ist bereit, seine Aussagen vor Gericht zu wiederholen.

Abdallah Ouelladi, Vorsitzender der Marokkanischen Organisation für Menschenrechte (OMDH), fordert nun eine unabhängige Untersuchungskommission. „Ohne die Wahrheit zu kennen, könne wir die Seite unserer Vergangenheit nicht umblättern“, erklärt Ouelladi.

Die OMDH will zusammen mit mehreren anderen Menschenrechtsgruppen im Oktober in Casablanca eine „Nationale Konferenz zur Aufarbeitung der Vergangenheit“ abhalten. Dabei soll es nicht nur um den Fall Ben Barka, sondern um „die bleiernen Jahre“ der Regierungszeit Hassan II. insgesamt gehen. Dutzende von Regimegegnern ereilte nach Angaben von Agent Boukhari das gleiche Schicksal in der Säurewanne wie Ben Barka. Hunderte verschwanden in den Geheimgefängnissen im Atlas. Zehntausende machten mit den Folterkellern überall im Lande Bekanntschaft.

Seit der Sohn Hassan II., Mohamed VI., vor zwei Jahren seinen Vater als König ablöste, können die marokkanischen Menschenrechtler freier arbeiten. Bekannte Regimegegner konnten aus dem Exil zurückkehren, unter ihnen die Familienangehörigen Ben Barkas. Opfer der „bleiernen Jahre“ konnten Bücher darüber veröffentlichen. Ein Gedenkmarsch zum schlimmsten marokkanischen Geheimgefängnis in Tazmamart im Atlasgebirge wurde genehmigt.

„Doch wenn es um konkrete Fälle geht, stoßen wir noch immer auf eine Mauer des Schweigens“, beschwert sich Mohamed El Boukili von der Marokkanischen Vereinigung für Menschenrechte (AMDH), die vergeblich ein Verfahren gegen 14 hohe Mitglieder der Armee fordert.

Oberstes Gebot für eine Demokratisierung Marokkos sei es, der „Wahrheit ins Gesicht zu schauen“, sagt Aboubakr Jamai, Herausgeber von Le Journal und Koautor der Artikel über Ben Barka. Königsnahe Zeitungen verlangen Aussöhnung statt Gerichtsverfahren. Das akzeptiert Jamai nicht. Erst wenn alle Verantwortlichen bekannt seien, könne „die Gesellschaft mit ihren Institutionen entscheiden, was sie damit macht“.

Selbst aus dem Königshaus bekommen diejenigen, die die Vergangenheit aufarbeiten wollen, Unterstützung. „Wir müssen ernsthaft der Wahrheit auf den Grund gehen. Das ist schmerzhaft, aber unumgänglich“, erklärte Prinz Moulay Hicham, Cousin des Königs, in Le Journal.

Nur Marokkos Regierung schweigt. Der sozialistische Ministerpräsident und einst enge Freund Ben Barkas, Abderrahmane Youssoufi, möchte sich nicht mit Königshaus und Armee anlegen. Doch damit konnte er sich in seiner Partei USFP (Union der Sozialistischen Volkskräfte) nicht durchsetzen. „Wir werden uns dafür einsetzen, dass die ganze Wahrheit bekannt wird“, sagte der Vorsitzende der UFDS-Parlamentsfraktion, Driss Lachgar. Er erstattete am 5. Juli wegen des Falls Ben Barka Anzeige in Rabat. Ahmed Boukhari soll erzählen, was er weiß.

In Paris sollte Boukhari letzte Woche erstmals vor einem Untersuchungsrichter erscheinen. Der Termin musste verschoben werden. Marokko hatte dem Exagenten keinen Pass ausgestellt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen