: „Gute Ideen haben ein Eigenleben“
Wie will Phillipe van Parijs (50) leben? Der belgische Sozialphilosoph kämpft für soziale Gerechtigkeit – mit einem ungewöhnlichen Modell: Parijs fordert ein Grundeinkommen vom Staat für jede und jeden. Damit sollen wir uns fortbilden, Kinder erziehen und künstlerisch tätig sein können
Interview DANIELA WEINGÄRTNER
Phillipe, könntest du in wenigen Sätzen erklären, wie dein Existenzgeldkonzept funktioniert?
Um ein klareres Bild zu bekommen, vergleicht man es am besten mit dem allgemein bekannten Sozialhilfesystem. Erstens: Jede und jeder bekommt es, unabhängig von ihrem oder seinem sonstigen Einkommen. Zweitens: Es ist nicht an Bedingungen geknüpft wie die Bereitschaft, sich zu qualifizieren oder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Drittens: Es ist unabhängig davon, wie viele Kinder man hat, ob man verheiratet ist oder ledig.
Das hört sich an wie ein sozialer Sciencefiction.
Holland, Belgien und Frankreich haben doch ihr Steuersystem gerade reformiert und erstatten unabhängig vom Einkommen einen Sockelbetrag zurück. Leider profitieren davon die Ärmsten nicht, die keine Steuern zahlen. Aber ansonsten kommt das meinem Existenzgeldkonzept schon sehr nahe. Einer meiner Studenten hat unseren Finanzminister bei der letzten Steuerreform beraten; wenn gute Ideen einmal in der Welt sind, entwickeln sie ein Eigenleben. Auch Erziehungsgeld, Elternurlaub und Lebensarbeitszeitbudgets sind Schritte in die richtige Richtung. Die neue Zeit kommt nicht mit einem großen Knall. Aber es ist wichtig, die kleinen Schritte mit einer Vision zu kombinieren, um nicht zu vergessen, wo die Reise hingehen soll.
Was geschieht, wenn Eltern das Geld vertrinken, statt ihre Kinder ordentlich zu versorgen? Genau in diesen Fällen, die jetzt schon die sozial problematischen sind, wird es doch interessant. Geht das Existenzgeldkonzept nicht von einem zu positiven Menschenbild aus?
Für diese Menschen wird es weiterhin ein System von Sozialfürsorge und Kontrolle geben müssen. Das substanziell Neue des Existenzgeldmodells liegt doch woanders: Es ermöglicht Menschen fließende Übergänge zwischen Arbeitsphasen, Lernphasen und Zeiten der Kinderbetreuung. Im Gegensatz zum bestehenden Sozialhilfesystem ermutigt es Menschen, auch schlecht bezahlte Tätigkeiten anzunehmen.
Wie das?
Das Existenzgeld bekommen sie weiterhin, es wird nicht wie die Sozialhilfe gegen den Lohn aufgerechnet. Nehmen wir als Beispiel ein deutsches Paar, das derzeit 650 Euro Sozialhilfe erhält. Nach dem geltenden Sozialhilfegesetz lohnt es sich nur dann für einen der beiden, Arbeit anzunehmen, wenn er oder sie mehr als diese 650 Euro verdienen kann. Hätten die beiden ein Existenzgeld von sagen wir 250 Euro pro Person, wäre der Anreiz groß, auch schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen, damit das Einkommen aufzubessern und auch wieder mehr am sozialen Leben teilzuhaben.
Jeder Sozialarbeiter kann dir erzählen, dass es Leute gibt, die nur durch Druck zu motivieren sind. Gibt man denen ein Existenzgeld, integrieren sie sich nie mehr im Arbeitsleben.
Aber das tun sie heute doch auch nicht. Der grundsätzlich neue Ansatz des Existenzgeldkonzeptes ist, dass Menschen es sich wieder leisten können, arbeiten zu gehen, weil sie ihre Grundansprüche behalten. Der Basislohn subventioniert Jobs mit niedriger Produktivität. Ich behaupte sogar, dass mittelfristig die Löhne für körperlich anstrengende und gesundheitlich belastende Jobs steigen werden, weil Menschen nicht mehr darauf angewiesen sind, um jeden Preis zu arbeiten.
Eine persönliche Frage: Gibt es eine biografische Erklärung für diesen starken Gerechtigkeitssinn?
Mein Großvater hat für die flämische Sache gefochten. Das war die Zeit, als flämische Soldaten auf Französisch in den Tod geschickt wurden. Die Offiziere sagten, die Pferdesprache würden sie schließlich auch nicht lernen. Außerdem bin ich katholisch erzogen und ein Achtundsechziger. Schon immer wollte ich das christliche Konzept sozialer Gerechtigkeit mit der Entscheidungsfreiheit des Individuums versöhnen.
Was du vorschlägst, ist praktisch das postkommunistische Konzept der Umverteilung öffentlichen Reichtums. Glaubst du, jeder Einzelne wird verantwortungsvoller damit umgehen, als es der Staat könnte?
Als ich meine Ideen 1984 an der FU Berlin zum ersten Mal vorgestellt habe, wählte ich tatsächlich die Überschrift: „Ein kapitalistischer Weg zum Kommunismus“. Das Existenzgeld würde dafür sorgen, dass ein wesentlich größerer Teil des erwirtschafteten Mehrwerts für die Grundbedürfnisse der Menschen ausgegeben würde. Das würde im Rahmen eines kapitalistischen Systems geschehen, die Marktmechanismen blieben also erhalten, die kapitalistische Dynamik würde nicht gebremst. Gleichzeitig würde der Freiraum jedes Einzelnen größer, sich eventuell auch aus dem System auszuklinken, ohne dass dadurch der erreichte Wohlstand in Gefahr geriete. Es ist letztlich der Versuch, zwei ursprünglich unvereinbar scheinende Denkansätze Kommunismus und Kapitalismus zu versöhnen.
Wenn das alles funktionieren soll, muss die Steuerflucht gestoppt werden. Globalisierung führt ja dazu, dass es immer einfacher wird, die nationalen Steuersysteme zu umgehen. Dann ist nichts mehr übrig, was umverteilt werden könnte. Hast du für dieses Problem eine Lösung anzubieten?
Bevor ich meine Lösung anbiete, will ich die Situation noch etwas drastischer darstellen. Wir befinden uns derzeit in dem Dilemma, entweder unser Herz oder unsere Seele zu verkaufen. Im jüngsten OECD-Bericht über Migration wird deutlich, dass Hochqualifizierte in fünf Länder abwandern: nach Australien, Kanada, USA, Großbritannien und Irland. 400.000 indische Computerfachleute arbeiten in USA. Allein in Kalifornien leben 40.000 hoch qualifizierte Franzosen. Es ist natürlich kein Zufall, dass es die fünf Länder sind, in denen Englisch die Verkehrssprache ist.
Was hat das denn mit Herz und Seele zu tun?
In dieser Situation können wir entweder unser Herz verkaufen, indem wir die Spitzenverdiener durch Steuergeschenke an uns binden. Oder wir können unsere Seele verkaufen, indem wir ihnen englischsprachige Schulen für ihre Kinder anbieten und Englisch als Lingua franca in unserer Gesellschaft akzeptieren. Dann geht uns aber mittelfristig unsere kulturelle Substanz, unsere Seele, verloren.
Und was könnte die Lösung sein?
Eine Strategie könnte darin bestehen, die Lebensqualität in einer Stadt für die Ärmsten zu verbessern und den Standort gleichzeitig für Hochqualifizierte attraktiv zu machen. Die zweite Strategie wäre, im übernationalen Rahmen umzuverteilen. Eine europäische Energiesteuer könnte zum Beispiel genutzt werden, um ein Existenzgeld für jede Europäerin und jeden Europäer auszuzahlen. Denkbar wäre auch eine weltweite Umweltverschmutzungssteuer, die sich nach der Einwohnerzahl berechnet. Das würde einen gewaltigen Umverteilungsmechanismus von der Ersten in die Dritte Welt in Gang setzen. Eine dritte Strategie wäre, Patriotismus zu rehabilitieren.
Wie bitte?
Wenn ich zum Beispiel Amerikanern erzähle, wie viel Steuer ich bezahle, fallen die um. Wenn ich dann auch noch sage, dass ich stolz auf mein Land bin, weil es den Mehrwert abschöpft und umverteilt, halten die mich für verrückt.
Stolz auf die Mehrwertsteuer?
Ich glaube an das europäische Modell, das ein hohes Maß an persönlicher Verfügungsfreiheit mit einer stark solidarischen Komponente verknüpft. Das ist einer der Gründe, warum ich nie einen Ruf nach USA angenommen habe. Ich bin stolz darauf, Belgier zu sein. Die Flamen zahlen jährlich einen Finanzausgleich an die Wallonie, der das Mehrfache des Staatshaushalts von Burundi ausmacht. Gleichzeitig haben wir einen vorbildlichen Minderheitenschutz. Neben Serbien, das wohl nicht mehr lange mit dem Kosovo zusammenbleiben wird, ist Belgien die einzige multilinguale Nation, die vom Habsburgerreich übrig geblieben ist. Aus den ökonomischen Gründen, die ich erläutert habe, wird die sprachliche Vielfalt in der Zukunft unter starken Druck geraten. Belgien könnte da ein Modell für die Europäische Union sein.
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