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Kleine Fische, große Fische

„Die Schlacht um die Blaubrücke“: Endlich liegt der Prolog von A. F. Th. van der Heijdens Romanzyklus „Die zahnlose Zeit“ auf Deutsch vor. Ein großes Buch über Erinnerungen und das Leben in die Breite

Erzählen in die Breite: Die Welt ist für diesen Autor alles, was eine gute Metapher ist

von GERRIT BARTELS

Das Leben ist kurz, und dann stirbt man. Diese alte Punkweisheit kennt auch Albert Egberts, der heroinabhängige Held aus A. F. Th. van der Heijdens Roman „Die Schlacht um die Blaubrücke“, nur allzu gut. Sie fällt ihm ein, als er im Morgengrauen an einem Taxistand in Amsterdams Innenstadt wartet. Die Gerüche aus einem in der Nähe stehenden Betonpissoirs veranlassen ihn, sein Leben zu bilanzieren: „Elf? Vierzehn? Sechzehn? Es gab eine Zeit des Heranwachsens, in der ich für immer aufgehoben zu sein schien; in der ich mich in aller Ruhe auf die künftige Verantwortung eines Erwachsenen vorbereiten konnte. Doch an meinem fünfzigsten oder sechzigsten Geburtstag würde ich noch immer das Gefühl haben, mein Leben sei gerade erst in Gang gekommen.“

Es ist für Egberts die Zeit gekommen, sich alter Illusionen zu entledigen, ohne neue zu entwickeln; die Zeit, sich eine Kugel zu geben oder Reife und Weisheit zu erlangen; die Zeit aber auch, um zurückzublicken. Denn eigentlich hatte sich Egberts das einmal ganz anders vorgestellt. Ein „Leben in die Breite“ wollte er führen, ein Leben, das im Gegensatz steht zur stetig vorangehenden, unweigerlich zum Tod führenden, irdischen Zeit: „Ein Dasein, in dem alles schneller verlief, mehr in Bewegung war, keine irdische Zeit verloren ging: in dem sich alle Ereignisse gleichzeitig abspielten, anstatt zeitraubend aufeinander zu folgen.“ Ausschnittweise wird es Egberts an diesem Tag, an dem „Die Schlacht um die Blaubrücke“ stattfindet, noch widerfahren, dieses „Leben in die Breite“.

Für den 50-jährigen niederländischen Schriftsteller A. F. Th. van der Heijden wiederum stellt dies Programm gleichermaßen poetologisches Credo wie literarisches Programm dar: als Schreiben und Erzählen in die Breite. Van der Heijden ist ein Wiedergänger der Moderne; ein Autor, der mit einem voluminösen, über 3.000 Seiten umspannenden Romanzyklus namens „Die zahnlose Zeit“ ein grandioses Buch der Erinnerung geschrieben hat; ein Buch, mit dem er versucht, schreibend „in die Welt einzugreifen“, ein Buch, mit dem er auch versucht, „alles, was man unterwegs an Armseligem und Miesem erlebt und woran man nicht vorbeikommt, hinterher in etwas Schönes umzuschmieden, umzuschmelzen“, sich also sozusagen der eigenen Existenz zu vergewissern.

Der in den Niederlanden schon 1983 erschienene Band „Die Schlacht um die Blaubrücke“ ist der Prolog dieses siebenbändigen Werkes, dessen sonderbare Erscheinungsweise in Deutschland der nichtlinearen Erzählweise van der Heijdens entspricht. 1993 erschien hierzulande, ohne größeres Aufsehen zu erregen, zuerst das so genannte Intermezzo „Der Widerborst“, eine Erzählung mit dem Neffen von Albert Egberts als Hauptfigur und dessen Faible für jede Form von Geschwindigkeit. Zwei Jahre später, pünktlich zum niederländischen Schwerpunkt bei der Frankfurter Buchmesse, wurde „Der Anwalt der Hähne“ veröffentlicht, der vierte und letzte Teil der „zahnlosen Zeit“. Ein in sich relativ geschlossener Roman über den Quartalssäufer und Rechtsanwalt Ernst Quispel auf der Suche nach dem Glück, eine Geschichte über das Amsterdam der mittleren Achtzigerjahre, ein Zeitroman und Gesellschaftspanorama. Erst danach folgten mit „Fallende Eltern“ und „Gefahrendreieck“ die Teile eins und zwei, beides umgekehrt reversibel ineinander übergehende Entwicklungsromane mit Albert Egberts in der Hauptrolle.

Geradezu logisch ist es da, dass mit „Der Schlacht um die Blaubrücke“ jetzt auch der Prolog auf Deutsch erschienen ist. Das eher schmale Buch ist die Ouvertüre, mit der van der Heijden sein Werk einleitet und ein großes und vielleicht sein wichtigstes Thema vorstellt: die Zeit.

Dazu kommt, zumindest wenn man die Entstehungszeit dieses Romans berücksichtigt, das erste Mal der sprachmächtige Erzähler zum Vorschein, der am liebsten mit fetten Pinselstrichen großformatige Bilder erstellt: Die Welt ist bei van der Heijden alles, was eine gute Metapher ist. Seien es die drei Flüsse, an denen Albert Egberts sein Leben verbracht hat, die Dommel in Geldrop, die Waal in Nimwegen, die Amstel in Amsterdam. Sie sind für Egberts immer wieder das genaue Abbild seines Lebens in puncto Stillstand und Bewegung: „In Übereinstimmung mit diesen Flüssen hatte sich das Leben nacheinander als unbrauchbar, unerreichbar und unberechenbar erwiesen.“ Oder sei es die Schere, deren Bild „Die Schlacht um die Blaubrücke“ dominiert, denn Albert Egberts ist Scherensammler. Er sammelt, auch wenn oder gerade weil Sammeln schließlich das „systematische Totschlagen von Zeit“ ist, Haushaltsscheren, Papierscheren, Nagelscheren, chirurgische Scheren.

Anhand ihrer beiden Schenkel begreift er die Gesetze vom Leben, von der Liebe und dem Tod umso besser, da geht es auf dem einen Schenkel zurück zu den Ursprüngen, in den Mutterschoß, und „über den anderen Schenkel zurück bis in die Gegenwart, in die Richtung seiner eigentlichen Bestimmung“.

Mit den Scheren aber unternimmt er auch ganz praktische Dinge: das Öffnen von Autoschlössern zum Beispiel, um sich so Diebesgut für seinen Drogenkonsum zu beschaffen. Dabei nun ereilt ihn sein „Leben in die Breite“ ganz unverhofft in einem alten Fiat 133. Kaum hat er sich auf den Beifahrersitz gesetzt, fällt ihm das Armaturenbrett auf, welches das Auto als das eines Behinderten auszeichnet. Dieser Anblick katapultiert Albert um Jahre zurück an den Eindhovener Kanal in Geldrop, den er mit seinem Freund Felix in einem gestohlenen und ebenfalls einem Behinderten gehörenden Auto entlangrast. Und kaum ist diese Erinnerung vergangen, folgt schon die nächste, eine noch einmal zehn weitere Jahre zurückliegende: Da ist es Alberts Mutter, die zusammen mit ihm und seinen beiden Geschwistern mit einem Fahrrad auf der Flucht vor seinem betrunkenen Vater ist. Sie wiederum findet er, immer noch im Fiat sitzend, wieder ein paar Jahre später, in einem Krankenhaus wieder, wo sie mit einer Magenblutung liegt.

Ständig bewegt sich Albert Egberts hin und her, ständig versucht er, größtmögliche Gleichzeitigkeit herzustellen zwischen den Tälern der Kindheit und der Jugend, dem Aufstieg in seine späten Zwanziger und dem Gipfel in der Gegenwart, diesem 30. April 1980. Es ist dies der Tag, an dem die holländische Königin Juliana Geburtstag hat, der Tag, an dem sie abdankt und ihre Nachfolgerin Beatrix den Thron besteigt. Es ist dies auch der Tag, an dem sich Alberts Geburtstag zum dreißigsten Mal jährt. Für Albert jedoch kein Anlass zu feiern, ihn beherrscht nur der Gedanke, nie einen eigenen Geburtstag gehabt zu haben: „Mein Geburtstag war immer in einem weitaus größeren Fest aufgegangen. Völlig geschluckt worden, wie ein kleiner Fisch von einem großen.“ Er schließt sich der Demonstration gegen die Amtsübergabe an, steht kurzeitig sogar an der Spitze des sich in Richtung Blaubrücke bewegenden Zuges mit einem Stein in der Hand, ohne ihn zu werfen, taucht dann aber wieder ab in seinen „Jahrmarkt der Erinnerung“: Onkel Egbert, Vater und Mutter, die kleinbürgerlichen Zusammenhänge, denen er entstammt, seine Zeit als Philosophiestudent in Nimwegen in den Siebzigern, die Freunde Flix und Thjum.

So geht in „Die Schlacht um die Blaubrücke“ eine Erinnerung in die nächste über, so spiralisieren sie sich und knäueln sich wieder auseinander, die apokryphen und authentischen Erinnerungen, die willkürlich herbeigeführten; vor allem aber die berühmten unwillkürlichen Erinnerungen, solche, die sich ihre Zeit und ihren Raum selbst suchen, die explosiv und rasend schnell kommen und die Wirklichkeit erst in ihrer ultimativen Realness abbilden: Marcel Proust revisited. Sie erst verschaffen Albert Egberts diese sehnsüchtig von ihm erwarteten „unteilbaren Momente“, die Momente, die die Zeit anhalten und überlisten – Sinneseindrücke wie der Gestank aus dem Pissoir, der Geruch einer Zitrone in einem Mineralwasser, der Lysolgeruch einer Krankenhauskantine, aber auch der Hund, der Albert in die Schulter beißt, als er dem Fiat 133 wieder entsteigen will. In diesem Moment findet Albert seinen Onkel wieder in dem, „was vielleicht seine wahrste Erscheinungsform gewesen war“: als Assistent bei Hundedressuren.

Es sind diese unzähligen Spots, Bruchstücke und Schnipsel aus Albert Egberts Leben, die „Die Schlacht um die Blaubrücke“ ausmachen, sich aber erst in der Gesamtheit des Romanzyklus „Die zahnlose Zeit“ zu einem einigermaßen stimmigen Bild zusammenfügen. Nur schwer ist dieses Buch daher als Solitär zu bewerten, zu sehr stehen da doch van der Heijdens ausuferndes, ungeordnetes Erzählen und Erinnern und letztendlich auch die kongeniale Veröffentlichungspraxis seines deutschen Verlags dazwischen. Wer also die bisher veröffentlichten Teile der „zahnlosen Zeit“ schon kennt – es folgen im Übrigen ab dem Frühjahr 2002 abschließend die beiden den dritten Teil bildenden Romane „Der Gerichtshof der Barmherzigkeit“ und „Unterm Pflaster der Morast“ –, wird sich im Prolog bestens zurechtfinden, kann Wissenslücken auffüllen und dürfte reihenweise Déjà-vus haben. Wer nicht, darf sich trotzdem an den verlorenen Illusionen des Heldens und seinen Reflexionen über die Kürze oder Breite des irdischen Daseins erfreuen, an seinem immer wieder von van der Heijden fein austarierten psychologischen Aggregatzustand und nicht zuletzt an der doch schönen Aussicht, den gesamten Romanzyklus noch vor sich zu haben.

Egberts jedenfalls, das kann ohne schlechtes Gewissen verraten werden, bekommt in seinen mittleren Dreißigern die Kurve, schwört seiner Drogensucht ab, mit der er ja eigentlich Bewegung ins sein Leben bringen wollte, und erklärt im „Anwalt der Hähne“ sein Scheitern in dieser Hinsicht so: „Es war die Bewegung eines Uhrzeigers: mörderisch gleichmäßig, mit Hilfe eines Aufziehmechanismus, während die Uhr selbst regungslos am Kamin gekreuzigt hängt. Stillstand in der Bewegung, das hatte ich mit meinem unter hohem Einsatz durchgeführten Experiment erreicht.“

Aus Albert Egberts, dem drogensüchtigen Loser und In-den-Tag-Hineinleber, wird schließlich ein gefeierter Bühnenautor und „monomanischer Schriftsteller“ – und der sicher auch nicht wenig monomanisch veranlagte Schriftsteller A. F. Th. van der Heijden hat es mit seinen Büchern schon jetzt geschafft, ihm einen unermesslich ausgedehnten Platz zu geben in der Tiefe der Zeit.

A. F. Th. van der Heijden: „Die Schlacht um die Blaubrücke“. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, 167 Seiten, 34 DM

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