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Unordnung der Welt

Globalisierungskritiker agieren im Namen universaler Werte und globaler Solidarität. Sie sind weder „staatsabgeneigt“ noch weltfremd. Eine Replik auf Sibylle Tönnies

International herrscht nicht Anarchie, sondern der Neoliberalismus von Weltbank,G-8-Gipfel und IWF

In ihrem taz-Kommentar vom 27. Juli 2001 widmet sich Sibylle Tönnies kritisch den „Globalisierungsgegnern“. Dagegen setzt sie Teilhard de Chardins Idee einer sich immanent entfaltenden organischen Einheit der Menschheit und koppelt daran schließlich ihre eigene These einer baldigen Weltregierung. Allerdings: Die Charakterisierung der Protestgruppen in Genua hat mit der Realität wenig zu tun; die Wunschprognose einer nahen Weltregierung ist der Frömmigkeit des Jesuiten Teilhard ebenbürtig.

Der erste Irrtum besteht in der Annahme, die in Genua aufgetretenen Protestgruppen ließen sich auf den einfachen begrifflichen Nenner von „Globalisierungsgegnern“ bringen. Dieses Etikett, vermutlich eine wohlfeile Erfindung der Medien, ist unsinnig. Es übersieht zweierlei: zum einen die Tatsache, dass viele der Gruppen, die sich kritisch gegen bestimmte Folgen bestimmter Globalisierungsprozesse wenden, im Namen universaler Werte und Rechte auftreten und eine globale Solidarität zwischen und innerhalb der Staaten anmahnen. Es übersieht zum anderen, dass diese Gruppen um die Schaffung einer globalen Kommunikations- und Mobilisierungsstruktur bemüht sind, die es erlaubt, durch transnationale Proteste weltweite Aufmerksamkeit zu erlangen.

So gesehen würde es wenig Sinn machen, gegen Globalisierung schlechthin antreten zu wollen. Auch widerspräche dies dem Selbstverständnis und der Praxis vieler jener Gruppen, die sich namentlich zum Genoa Social Forum bekannten – angefangen von Teilen der katholischen Kirche als der ältesten globalen Institution über die italienische Sektion des World Wide Fund for Nature bis hin zu internationalistischen linken Zirkeln wie Ya Basta!.

Der zweite, mit dem ersten Fehler zusammenhängende, Irrtum liegt in der Behauptung, die Globalisierungsgegner seien „staatsabgeneigt“, wollten „den globalen Austausch abschaffen“ und redeten einer „Repartikularisierung“ der Welt das Wort. Bestritten werden soll nicht, dass es auch antistaatliche Strömungen innerhalb der globalisierungskritischen Gruppen gibt. Der Tenor programmatischer Aussagen und konkreter Forderungen weist jedoch exakt in die entgegengesetzte Richtung. Und er wird auch entsprechend von hellhörigen Marktliberalen entziffert: Es geht der Mehrzahl der Gruppen darum, demokratisch legitimierten Regierungen auf nationaler wie internationaler Ebene wieder ein Stück ihrer Interventionsfähigkeit in ökonomischen Belangen zurückzugeben – dies vor allem, um soziale und ökologische Mindeststandards zu sichern, spekulative Devisengeschäfte durch eine minimale Steuer zu bremsen, die Kapitalflucht in Steueroasen zu verhindern, Waffenexporte zu reduzieren und eine integrierte, langfristig orientierte und wirklich solidarische Entwicklungspolitik zu betreiben. Kann den globalisierungskritischen Gruppen ernsthaft der kindliche Glaube unterstellt werden, dies alles ließe sich ohne Staaten und deren internationale Abmachungen durchsetzen? Weder die Lektüre des einschlägigen Schrifttums noch die Praxis von Fair Trade, Eine-Welt-Läden und Organisationen wie Peoples’ Global Action sprechen also für das Etikett „Globalisierungsgegner“.

Der dritte Irrtum liegt in der geschichtsteleologischen Zuschreibung einer Sinnhaftigkeit des Chaos in Genua als eines „Zeichen des Fortschritts“. Dieses „großartige Theater“ (Tönnies) brächte der Welt zum Bewusstsein, „dass sie sich in dem Zustand brodelnder, gärender Anarchie“ befände. Und ausgerechnet dieses Theater sei ein Signal dafür, dass „die Weltteile, die sich bisher nur vernetzt haben, kurz davor sind, sich auch zu ordnen – und das heißt: sich in einer Weltregierung zu bündeln“.

Dass in den Straßen Genuas chaotische Verhältnisse geherrscht haben, ist nicht zu bezweifeln. Es entspricht den Berichten vieler Augenzeugen auf Seiten der Demonstrierenden, der Polizei, der JournalistInnen und der BewohnerInnen der Innenstadt. Auch ist unzweifelhaft, dass in manchen Regionen der Welt chaotische innenpolitische und soziale Zustände herrschen. Falsch ist es freilich, die bestehende globale politische und ökonomische Konstellation insgesamt als „gärende Anarchie“ zu beschreiben. Es handelt sich vielmehr um ein deutlich hierarchisiertes und kontrolliertes Machtgefüge, in dem politisch-militärisch die USA (auch innerhalb der Nato) eine weltgeschichtlich einmalige Dominanz erlangt haben, in dem Institutionen wie G-8-Gipfel, Welthandelsorganisation, Weltbank und Internationaler Währungsfonds dabei sind, ihre neoliberalen Strategien in globalem Maßstab durchzusetzen. Dies fällt umso leichter, als sich in vielen armen Ländern Verbündete, in der Regel schmale politische und ökonomische Eliten, finden lassen, die vom neoliberalen Geschäft profitieren.

Die Demonstrierenden wollen für die Regierungen mehr Interventionsfähigkeit in der Ökonomie

Wo die Gefahr gärender Anarchie droht, wächst Sibylle Tönnies zufolge auch das Rettende. Wir stehen „kurz davor“ und dürfen gleichsam die letzte Adventskerze anzünden, bevor wir an den Gabentisch treten. Ansatzweise, so wird uns versichert, „regelt eine Weltbank die Geldströme, ansatzweise vergilt eine Weltjustiz die schlimmsten Verbrechen, ansatzweise entscheidet eine Weltregierung über Krieg und Frieden.“ Wie weit reichen diese Ansätze? Dass ausgerechnet die Weltbank die globalen Geldströme lenkt, entspricht weder ihrer offiziellen Bestimmung noch der Realität. Dass ansatzweise die schlimmsten Verbrechen gesühnt werden, spricht hunderttausenden von Tutsi in Ruanda Hohn, die unter den Augen französischer Soldaten massakriert wurden. Und war nicht ein für den Krieg und die Kriegsverbrechen in Tschetschenien verantwortlicher Wladimir Putin willkommener Gast in Genua – ein Gast an der Seite von sieben Staatsmännern aus einer Welt, in der sich angeblich die wichtigste Voraussetzung eines Weltstaats, nämlich eine „universale Mentalität“ mit „der Idee der Menschenrechte bereits erfüllt“ habe?

Frau Tonnies will gewiss keinen globalen „Big Brother“, sondern ausdrücklich einen demokratischen und gerecht gestalteten Weltstaat. Darauf hinzuarbeiten ist eine ebenso schöne wie alte Idee. Immanuel Kant und manche vor ihm lassen grüßen. In dem „Chaos“ von Genua jedoch ein treibendes Moment für diesen Weltstaat zu sehen, kann nur als abwegig bezeichnet werden. Wenn die politische Führung eines demokratischen Landes nicht willens oder in der Lage ist, die ihnen unterstellten, hierarchisch geführten und auf das Chaos wochenlang vorbereiteten „Ordnungskräfte“ in Genua im Zaum zu halten, wie sollte eine solche Ordnungsleistung dann einer heterogenen Staatengemeinschaft (Diktaturen eingeschlossen) gelingen – einer Staatengemeinschaft, die von scharfen ökonomischen und politisch-ideologischen Interessengegensätzen durchzogen ist und deren Sanktionsmöglichkeiten selbst im seltenen Falle eines breiten Konsenses notorisch unterentwickelt sind? DIETER RUCHT

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