: Außenseiterin mit Stehvermögen
Die türkische Menschenrechtlerin Sema Piskinsüt soll wegen Zusammenarbeit mit Kriminellen angeklagt werden
Sema Piskinsüt (49) ist eine der wenigen bekannten Politikerinnen der Türkei, die auch ohne hohes Amt immer wieder für Aufsehen sorgt. In breiten Bevölkerungskreisen wurde sie vor rund eineinhalb Jahren populär, als sie als Vorsitzende der Menschenrechtskommission des Parlaments mehrere Berichte über Folter, vor allem in Polizeistationen, erstellte. Mit anderen Mitgliedern der Kommission besuchte sie unangemeldet Polizeiwachen und Gefängnisse und hörte sich dort die Klagen der Gefangenen an. Die Berichte erregten großes Aufsehen, weil durch sie das erste Mal die ausgedehnte Folterpraxis in der Türkei quasi amtlich wurde.
Höhepunkt ihrer parlamentarischen Aktionen war ein Auftritt im hohen Haus, bei dem sie den anderen Abgeordneten Folterwerkzeuge präsentierte, die sie in einer Istanbuler Polizeiwache gefunden hatte. Vier Jahre war Sema Piskinsüt Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Parlaments und hat in dieser Zeit dafür gesorgt, dass der Ausschuss auch seinen Namen verdient. Von Haus aus ist Piskinsüt Ärztin. Bevor sie 1995 ins Parlament gewählt wurde, war sie Chefärztin des staatlichen Krankenhauses in Aydin.
Der Einsatz für die Menschenrechte und die Kritik auch an hohen Polizeioffizieren bekamen der Karriere der Politikerin allerdings nicht gut. Als Erstes verlor sie den Vorsitz in der Menschenrechtskommission. Mit der Zustimmung ihres Parteivorsitzenden, Ministerpräsident Ecevits, wurde Hüseyin Akgül, ein strammer rechter Nationalist der MHP, Kommissionschef. Endgültig zur verfemten Außenseiterin wurde Piskinsüt, als sie es wagte, auf dem letzten Parteitag der DSP gegen Ecevit um den Vorsitz zu kandidieren. Sie wurde ausgebuht und gehindert, zu reden.
Jetzt will die Staatsanwaltschaft vom Staatssicherheitsgericht in Ankara gegen sie Anklage erheben und hat die Aufhebung der Immunität gefordert. Man wirft ihr Verschleierung von Straftaten und die Zusammenarbeit mit Kriminellen vor. Hintergrund der Anklage ist die Weigerung von Piskinsüt, Gefangene preiszugeben, mit denen sie als Vorsitzende der Menschenrechtskommission des Parlaments gesprochen hatte.
Der Vorstoß der Staatsanwaltschaft erscheint den meisten politischen Beobachtern wie ein finaler Versuch, Sema Piskinsüt als Politikerin endgültig auszuschalten. Piskinsüt hatte der Staatsanwaltschaft bereits im letzten Herbst mitgeteilt, dass allen Gesprächspartnern, die gegenüber der Kommission über Folter berichtet hatten, vom Menschenrechtsausschuss Anonymität zugesichert worden war und sie nicht daran denke, dieses Versprechen zu brechen. In einer Stellungnahme erklärte sie jetzt, sie habe es nicht nötig, sich hinter ihrer Immunität zu verstecken und werde selbst beim Parlamentspräsidenten die Aufhebung beantragen. Die Vorwürfe gegen sie seien absurd. Justizminister Hikmet Sami Türk verteidigte die Aktion der Staatsanwaltschaft und bestritt, dass die Anklage politisch motiviert sei.
In der türkischen liberalen Öffentlichkeit sorgt der Fall für große Empörung. Der Kolumnist der linksliberalen Cumhuriyet, Ali Sirmen, schrieb: Diese Geschichte ist ein Skandal – sie gibt allen, die in diesem Land für die Demokratie gekämpft haben, den Rest. „Ich möchte am liebsten im Schlaf versinken und nicht wieder aufwachen.“
JÜRGEN GOTTSCHLICH
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