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Schrumpfung als Chance

Nicht nur im Osten muss die Stadt als Lebensraum erhalten werden. Bürger, Politiker und Architekten brauchen ein neues Bewusstsein für nachhaltiges Bauen und für mehr Chaos

Eine Reform der Baupolitik muss die Subventionierung des Eigenheimbaus erheblich einschränken

Sie sind die Monster des modernen Städtebaus: die Plattenbau-Ghettos an den Peripherien der großen Kapitalen, euphemistisch auch Vorstädte genannt. Sie bilden, zumindest in Mittel- und Westeuropa, städtbauliche Sozialfälle – industriell hochgezogen, monofunktional, identitätslos, ohne ausreichende urbane Infrastruktur und architektonische Schwerpunkte, ungeliebt, und zum Teil verwahrlost. Die großen Schlafstädte des 20. Jahrhunderts, sagte einmal der französische Soziologe Pierre Bourdieu, „das sind die Gegenwelten“.

Noch ist offenkundig, dass diesen „Gegenwelten“ reale Städte gegenüberstehen, die weniger Furcht erregen. In den mäandernden Wohnmaschinen der Republik leben Menschen, die dort ihr Zuhause, pathetisch gesagt, ihre Heimat an der sich weitenden Peripherie gefunden haben. Noch finden sich begrünte und luftige Orte mit sonnigen Wohnungen, nahen Schulen und Kindergärten sowie guter Verkehrsanbindung zur Innenstadt. Und noch gehört der Siedlungsbau zur Gegenwart. Dies lässt sich daran ermessen, dass die Bundesregierung die modernistischen Zentren zwischen 1990 und 2000 mit einem zusätzlichen 70-Milliarden-Mark-Kraftakt für Sanierungen, Erneuerungen und soziale Programme zu stärken versucht hat.

In Berlin-Marzahn etwa, der größten Plattenbausiedlung Europas mit 61.000 industriell gefertigten Wohneinheiten für 160.000 Menschen, wird derzeit mit über 5 Milliarden Mark aus dem Haushalt des Bundesbauministeriums das Programm „Experimenteller Wohnungsbau“ umgesetzt, das neben der Modernisierung von Wohnungen auf die Verbesserung und Urbanisierung des städtebaulichen Umfeldes abzielt. Die locker verteilten Zeilenbauten werden zu Blöcken „arrondiert“, in den Innenhöfen Spielplätze und Kindertagesstätten errichtet. Arbeitsstätten, Kultur-, Schul- und Hochschulbauten, Einkaufszentren, Büro- und Gewerbebauten sowie Gaststätten werden um neue Plätze und Stadträume zu Quartieren gefasst.

Doch Berlin ist ein „Sonderfall“, angesichts relativer demografischer Stabilität und der finanziellen Sonderleistungen des Bundes, wie Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höppner zu Recht konstatiert. Denn Tatsache ist, dass das „Modell Marzahn“ und die erfolgreiche „städtebauliche Qualifizierung“ bundesweit und vor allem in Ostdeutschland künftig nicht mehr greift. Daran ändern auch des Kanzlers neue zwei Milliarden für das Stadtumbau-Programm ab 2005 wenig.

Der Zusammenbruch industrieller Zentren, ob im nördlichen Ruhrgebiet oder an der Oder, sowie der massive Bevölkerungs- und Wertverlust der Quartiere stellt nicht nur das Bild vom Stadtwachstum auf den Kopf. Schon die Sanierung ist Makulatur angesicht realer Abwanderung von bis zu 15 Prozent etwa in der Region Halle/Leipzig oder prognostizierter Leerstandsquoten von 25 bis 40 Prozent etwa in Wittenberg, Schwedt und Hoyerswerda, ganz zu schweigen von den Plattenburgen am Rande Rostocks und Magdeburgs. Denn wer steckt noch Geld in eine Geisterstadt der Moderne, einen defizitären Wohnungsmarkt und hoffnungslose Milieus?

Es ist schon eine erstaunliche Beschönigung, die Gesetze traditioneller Stadterneuerung zu beschwören, wenn man bedenkt, dass bereits jetzt 400.000 Wohnungen leer stehen, zumeist in Plattensiedlungen, und es bald über eine Million sein sollen. Wo eine auf Wachstum und Dynamik angelegte Stadtentwicklung passé ist, bedarf es keines großflächigen Erhalts obsoleter Wohnformen. Aber was braucht man dann?

Leipzigs ehemaliger Oberbürgermeister und Vorsitzender der Bundesbau-Kommission „Wohnungswirtschaftlicher Wandel in den neuen Bundesländern“, Hinrich Lehmann-Grube, hat jüngst die eigentlichen Herausforderungen benannt, die in den sich entvölkernden Siedlungen auf die Stadtplanung und die Akteure der Stadtentwicklung zukommen: der Abriss und die Einleitung eines Paradigmenwechsels vom Leitbild der Stadt im 20. Jahrhundert zur schrumpfenden oder „Shrinking City“. „Es geht um ein fundamentales Problem des Städtebaus und der Stadtplanung, das grundsätzlich neu bedacht werden muss. Wir müssen jetzt fragen, was das bedeutet und wie wir damit umgehen müssen.“

Abriss gilt nochimmer als Tabu –obwohl er im Osten längst beschlossene Sache ist

Der Aufruf zur Revision des modernen Siedlungsbaus an der Peripherie mag für deren Ideologen hart klingen. Zudem ist Abriss noch immer ein Tabu und gilt als Denkverbot, obwohl der Abriss längst beschlossene Sache ist. Dabei sind die geforderten neuen Spielregeln weit weniger radikal, als sie sich anhören. Stadtplanung in Zeiten der Schrumpfung steht als neuer Denkansatz für den behutsamen Rückbau von Quartieren – keineswegs für die Demontage ganzer Siedlungen in deökonomisierten Regionen.

Abrisse als Regulativ nach Siedlungsentleerungen oder von „Broken-Windows-Quartieren“ kann eine Chance sein, dort negative strukturelle, bauliche und soziale Veränderungen zu korrigieren. „Less is more“-Beispiele dafür gibt es: Die Siedlung „Metastadt“ am Rande des Ruhrgebiets wurde abgerissen, als ihre Bewohner und die Geschäftsleute dem Quartier den Rücken gekehrt haben. Im holländischen Leeuwarden flogen Plattenbauviertel aus den 70er-Jahren in die Luft, weil kein Sanierungs- und Städtebaukonzept greifen wollte. Die Amsterdamer Siedlung Bijlmermeer, die einst total zu verslumen drohte, ist heute durch Teilabrisse und Rückbau auf dem Weg von der ungeliebten Satellitenstadt zum geschrumpften, aber angenehmen Wohnviertel.

Solch ein Konzept wäre ein Flop, folgte dieser Strategie nicht auch die radikale Abwendung von den Stadtvisionen der Moderne an der Peripherie. „Leerstände sind Folgen des Einwohnerrückgangs infolge demografischer Prozesse, aber auch von Funktionswandel und Nutzungsschwund der Stadt am Ende des Industriezeitalters“, analysieren die ostdeutschen Städteplaner Iris Reuther und Michael Bräuer. Die Funktion – und die Idee – der Wohnsiedlungen hat sich mit dem Niedergang der großen Industriestandorte überlebt. Weil diese aufgegeben werden, verabschieden sich (und müssen sich verabschieden) die Bewohner von jenen und damit von der baulich-gesellschaftlichen Ideologie einer Epoche.

So offenbart die Halbwertszeit der Siedlungen zugleich einen notwendigen Funktions- und Bedeutungswandel von Stadt im 21. Jahrhundert insgesamt: Sie folgt weder dynamischen noch normativen Gesetzen. Städteplanung auf der Grundlage des „less is more“ hat damit einen schwierigen Part, fordert sie doch von Bürgern, Architekten und Politikern ein neues Bewusstsein für den Bestand, nachhaltiges, ressourcenschonendes Bauen, mehr Denkmalschutz, weniger Prosperität, mehr Chaos.

Ziel muss also sein, mit dem „Weniger“ zu experimentieren und Lösungen anzubieten für die anstehenden Fragen: Was wird aus den rückgebauten freien Flächen, was aus den Beständen, wie und wo baut man neue Häuser für die Stadtbürger, wo will man Gewerbe, Dienstleistungen und kulturelle Einrichtungen ansiedeln?

Berlin ist ein Sonderfall, da die Bevölkerungszahl relativ stabil ist und der Bund viel Geld investiert

Um die dramatischen Einwohnerverluste, die durch Suburbanisierung auf der grünen Wiese oder Wegzug entstehen, in den Siedlungen zu kompensieren, braucht es auch deutliche Einschnitte in bestehende Fördermaßnahmen: Öffentliche Gelder für die Häuslebauer am Stadtrand müssen reduziert werden, da sonst die Schrumpfung langfristig beschleunigt und der Stadt geschadet wird, statt deren notwendige Renaissance zu fördern – als urbanes Energiezentrum, das Menschen und Arbeit hält, diese anzieht und nicht verabschiedet. Eine Reform, die den Bestand fördert, muss jedoch nicht nur die Subventionierung für den privaten Neubau einschränken. Zugleich sollten die Gelder für den randstädtischen Straßenbau, die Errichtung technischer und verkehrlicher Infrastrukturmaßnahmen zurückgefahren und zur innerstädtischen Eigentumsbildung und für Projekte wie öffentliche Parks, den Nahverkehrsausbau sowie soziale Einrichtungen verwendet werden. Sie machen die Stadt zum Lebens- und Identifikationsort. Schließlich bedeutet die Abkehr von den peripheren Rändern, Siedlungsteppichen und tagtäglichen Autokolonnen in die Stadt hinein und aus ihr heraus auch: Die Konzentration auf das Zentrum bestärkt die Stadt im Wandel als „Gegenwelt“ zum lebensnotwendigen grünen Umland.

ROLF LAUTENSCHLÄGER

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