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Wem gehört das Jüdische Museum?

Für eine kosmopolitische Gedächtniskultur: Die Erinnerungen an den Holocaust werden zur Grundlage einer globalen Menschenrechtspolitikvon NATAN SZNAIDER

Der Holocaust ist das Symbol einer moralischen Globalisierung

Das Jüdische Museum in Berlin verwandelt sich vom leeren Gebäude, dessen Leere Lehre sein sollte, in ein Museum, wo man sich nun nicht mehr nur Leerstellen, sondern auch Exponate anschauen kann. Endlich kann man die Erinnerung anfassen. Vielen war das leere Gebäude zu postmodern, zu flüssig, zu leer, zu abstrakt. Oft wird es gerade Juden unbehaglich, wenn sie zu verstehen beginnen, dass die Ermordung ihrer Verwandten und Bekannten zum Anlass genommen wird, Erinnerung in abstrakte Konzepte zu verwandeln. Und man will sich die eigene Geschichte nicht auf die Jahre der Judenvernichtung reduzieren lassen. Andere wiederum machen Juden den Vorwurf, dass sie ihre eigene Erinnerung versteigern, sie zu Kulturindustrie werden lassen und sich darüber hinaus ideell und materiell an ihr bereichern. Ein wundervoller Vorwurf, da sich so elegant Antisemitismus hinter Kulturkritik verschanzen kann.

Aber sowohl jene, die Gedächtnis mit Ethnie und Nation gleichsetzen, als auch diejenigen, die von Instrumentalisierung und Ausbeutung der Erinnerungen reden, sind noch in alten Kategorien verfangen. Die alternative Sichtweise würde Folgendes bedenken: Das Gedächtnis kann sich aus den ethnischen Grenzen lösen und bekommt im Zeitalter der Globalisierung neue Bedeutungen, mit denen auch Grundprinzipien einer neuen Politik im 21. Jahrhundert geschaffen werden können.

Globalisierung ist nicht nur eine Machtstrategie finsterer Neoliberaler, sondern auch ein neues Wertesystem, in dem Erinnerungen an die in der Vergangenheit begangenen Gräueltaten zum Schlüssel für zukunftsbezogene Politik werden. Zur Kosmopolitisierung des Raums kommt nun auch die Kosmopolitisierung der historischen Zeit, die durchaus erlösenden Charakter haben kann. Das Jüdische Museum ist daher nicht nur Zeichen der „eigenen“ Geschichte, sondern Teil einer sich aus dem nationalen Container lösenden Erinnerung. Anders gefragt: Wie kann kollektive Erinnerung im Zeitalter der Globalisierung beschaffen sein? Kann man überhaupt noch von einem „Kollektiv“ reden, das sich erinnert?

Und warum spielen gerade Juden und die Geschichte ihrer Vernichtung eine so große Rolle in diesen neuen, Nationen übergreifenden Erinnerungskulturen? Und dies in einer Zeit, in der das Geld einen großen Teil Europas vereint. Diese ökonomische Einigung muss wohl auch von moralischen Interessen untermauert werden.

Es ist gerade die Katastrophe Europas, die zum Ausgangspunkt neuer Solidarität wird. Gerade Erinnerungen an den Holocaust werden in einer Epoche ideologischer Ungewissheiten zu einem Maßstab für humanistische und universalistische Identifikationen. Die Erinnerungen an den Holocaust erlauben zu Beginn des dritten Jahrtausends die Formierung Nationen übergreifender Gedächtniskulturen, die wiederum zur Grundlage für globale Menschenrechtspolitik werden.

Kann es, ja darf es so etwas wie ein globales Gedächtnis überhaupt geben? Ist der Begriff selbst nicht integraler Bestandteil des geschlossenen nationalen und ethnischen Verständnisses, das Menschen von sich haben? Sind es nicht gerade die so genannten kollektiven Erinnerungen, die als Argument gegen die Möglichkeit globaler Kulturen ins Feld geführt werden?

Die Museumseröffnung in Berlin ist daher kein isoliertes und zufälliges Ereignis, sondern verweist vielmehr auf Umorientierung. In einer Zeit der Ungewissheit haben grundsätzliche Fragen nach Gut und Böse an Bedeutung gewonnen. Dies macht die zeitgenössische Zentralität der Holocaust-Erinnerung verständlich und die vielen Metaphern, die mit ihr einhergehen. Der Holocaust (und seine Assoziation mit „Genozid“) ist in vielen westlichen Staaten zum moralischen Maßstab der Unterscheidung zwischen Gut und Böse geworden, ein Maßstab, an dem humanistische und universalistische Ansprüche gemessen werden. Der Holocaust wird so zum Allgemeingut und erlaubt es Menschen in den verschiedensten Ländern, sich mit ihm auf unterschiedlichste Weise auseinander zu setzen.

Ist es überhaupt möglich, dass die Erinnerung an den Holocaust die Basis einer kosmopolitischen Kultur bilden kann? Teil von Spaß- und Erlebniskultur? Wird die Globalkultur nicht gerade deswegen als zeitlos und erinnerungslos abgetan? Eine solche Sicht basiert unter anderem auf einem beschränkten Verständnis von Globalisierung, in dem die Kultur einer weltweiten Homogenisierung ausgesetzt ist, der nur durch nationale und ethnische Leitkulturen widersprochen werden kann. Deswegen pocht man auch auf die Besitzansprüche am Holocaust. Das gilt für das ehemalige Opferkollektiv, die Juden, die sich gegen jede Universalisierung des Holocausts wehren. Aber es gilt zugleich für die Nachfahren der Täter, die sich ihren Holocaust auch nicht nehmen lassen wollen.

Gerade im Fall des Holocausts sind die national geprägten Bilder – Deutschland als Täternation, Israel als Opfernation – nicht mehr die einzig relevanten Bilder. Täter und Opfer vermischen sich. Einwanderer, die Deutsche werden, können und wollen sich nicht als Täter begreifen. Individualisierungsprozesse lösen die Verbindung zwischen den Generationen auf. Enkel fühlen sich für die Taten ihrer Großeltern nicht mehr verantwortlich.

Politisch heißt das auch, dass Palästinenser den Holocaust umdeuten, so dass sie nun selbst zu „jüdischen“ Opfern und die Israelis zu „deutschen“ Tätern werden. Die Konferenz in Durban zeichnet dies dieser Tage in aller Absurdität nach. Und auch die glorreiche Rolle der amerikanischen Retter wird ständig von innen und außen in Frage gestellt, insbesondere in einer Zeit, in der 500 deutsche Soldaten nun diese Retterrolle in Mazedonien wahrnehmen sollen. Kann es sein, dass die Erinnerung an die von den Nazis ermordeten Juden zu einem neuen Anker in der Flut der Unsicherheit wird? Und dass dabei alle Kategorien von Opfern, Tätern und Zuschauern und Rettern heillos durcheinander geworfen werden?

Kann da ein Jüdisches Museum überhaupt noch mithalten? Die Antwort ist: Ja. Denn all das Gesagte bedeutet keineswegs, dass Erinnerungen sinnlos werden. Jenseits der Freude und der Trauer über den Verlust von bindenden Sinnbildern öffnet sich ein neuer Rahmen, in dem diese Bilder verstanden werden können. Der Gedächtnisraum erscheint nur dann entleert, wenn man nicht verstehen will, wie ein kollektives Gedächtnis in der globalen Welt funktioniert. Kultur kann nicht mehr als ein geschlossener nationaler Raum verstanden werden. Transnationale Medien, Massenkultur, wie Filme und Musik, lösen den nationalen Rahmen auf, ohne diesen verlassen zu müssen. Vorstellungen und Ideen über die Welt geraten mit Vorstellungen und Ideen über die Nation in Konflikt. Sogar der Fernsehzuschauer, der nie seinen Heimatort verlässt, muss globale Wertvorstellungen, die an anderen Orten produziert werden, in den eigenen nationalen Rahmen integrieren. Das macht auch jede Debatte um Leitkultur so völlig sinnlos. Und das gilt auch für die Leitkultur des Holocausts.

Das Museum ist daher Teil eines globalen Kulturangebotes. In einer Zeit, in der geografische und zeitliche Distanzen geringer werden, werden Ereignisse am einen Ende des Globus fast zeitgleich Menschen am anderen Ende übermittelt: Das Leiden auf der anderen Seite des Planeten wird sichtbar.

Natürlich ist der globale Mensch keine Mutter Teresa, aber die globalen Medien und auch Museen und Mahnmale unterbreiten ein Angebot, das entweder abgelehnt oder angenommen werden kann. Man hat die Alternative, mit zu leiden oder teilnahmslos zu bleiben. Aber auch das Ignorieren ist Anteilnahme. Das Leiden Fremder in der Gegenwart aber muss erklärbar sein, muss in kognitive Strukturen integriert werden, die sich auf das „Erinnern“ an fremdes Leiden beziehen. Katastrophen der Vergangenheit können so relevant für die Gegenwart werden und damit eine Zukunft bestimmen, die jenseits nationalstaatlicher Koordinaten artikuliert wird.

Die Zuschauer werden selbst Teil des Dramas. Das heißt aber nicht nur, dass man sich „zu Tode amüsiert“ (Neil Postman), sondern dass man sich auch „global sorgt“, sich ängstigt, vergleicht, Vergangenheit zu Zukunft werden lassen kann. Das ist nun die Rolle, die den ermordeten Juden Europas zukommt. Und ohne die kosmopolitische Zeit, also ohne Jüdisches Museum und Mahnmal, auch kein Mazedonieneinsatz. Vielleicht ist auch der Tag nicht weit, wo deutsche kosmopolitische Truppen im Nahen Osten zwischen Israelis und Palästinensern vermitteln.

Global verfügbare Normen finden ein immer größeres Publikum und werden dadurch demokratisiert. Globalisierung fördert diese Entwicklungen, und gleichzeitig ist die Akzeptanz dieser Normen zu einer notwendigen Bedingung für die Teilnahme an der Globalisierung geworden. Staaten, die sich diesem Prozess entziehen wollen, sehen sich plötzlich unter globalem Druck, wie es im Moment gerade auch Israel erfahren muss. Und dennoch ist es kein Zufall, dass die Erinnerung an den Holocaust eine immer wichtigere Rolle in einem Nationen übergreifenden globalen Kontext spielt.

Juden stellen für viele (und oft gegen ihren eigenen Willen) die wichtigsten Träger der kosmopolitischen Erinnerung dar. Deswegen ist der Holocaust als das bestimmende Unglück für Juden so wichtig, weil er der ultimative Versuch war, den Kosmopolitismus auszulöschen. Aus diesem Grunde konnte keine andere Katastrophe diese Rolle der Erinnerung im globalen Zeitalter übernehmen. Dem Holocaust kommt nun eine moralische Bedeutung zu, die unabhängig von ihren historischen und territorialen Ursprüngen ist.

Der Holocaust als Erinnerungsemblem des 20. Jahrhunderts bestimmt so die Formen der Erinnerung für die Zukunft des 21. Jahrhunderts. Damit ist er zum Symbol der moralischen Globalisierung geworden. Und sowohl Daniel Libeskind, der Architekt des Jüdischen Museums, als auch Steven Spielberg mit seiner Shoah Foundation haben dazu beigetragen.

Natan Sznaider ist zusammen mit Daniel Levy der Autor von „Erinnerung im Globalen Zeitalter: Der Holocaust“, das im Oktober bei Suhrkamp erscheint.

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