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Wenn Lehrer nicht mehr klüger sind

Die unbegreiflichen Bilder über die Anschläge in den USA und den Krieg gegen den Terror sind vor allem für eine Berufsgruppe eine Herausforderung: die Lehrer. Die Schüler erwarten Erklärungen von ihnen und Hilfe. Seitdem gilt ein neues Unterrichtsprinzip: Gemeinsam nach Antworten suchen

von SUSANNE AMANN

„Frau Oehlert, gibt es jetzt Krieg?“, wollen die Schüler wissen. Wie reagiert man als Lehrer auf eine Frage, die man selbst gerne beantwortet hätte? Auf die man eigentlich keine Antwort weiß? „Frau Mächler, sagen Sie uns bitte, was jetzt noch gut und böse ist!“

Kerstin Oehlert ist Referendarin in einer schwäbischen Grund- und Hauptschule und hat in den Tagen nach den Terrorangriffen in den USA erlebt, wie verstört und ängstlich ihre Schüler waren. Vor allem aber hat sie als junge Lehrerin zum ersten Mal erfahren, wie schwierig es sein kann, Antworten geben zu sollen. „Es ist eine sehr klare Frage, ob es Krieg geben wird oder nicht“, erzählt sie, „und deshalb erwarten die Schüler auch ein klares Ja oder Nein. Aber ich stand einfach da und wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte.“

In den ersten Tagen nach den Terroranschlägen am 11. September gab es an vielen Schulen in Deutschland keinen regulären Unterricht. Auch jetzt, nach den Bombenangriffen auf Afghanistan, werden wieder Schweigeminuten abgehalten, Lichterketten und Friedensdemonstrationen veranstaltet. Damit zeigen Kinder und Schüler ihre Anteilnahme. Gemeinsam mit Lehrern tauschen sie Informationen über das Unfassbare aus und suchen nach Erklärungen. Doch jetzt wissen auch die Lehrer keine Antwort: „In diesem Moment hat das normale Lehrer-Schüler-Verhältnis nicht mehr funktioniert“, so Anita Mächler, Schulleiterin an einem Berliner Gymnasium. „Wir konnten nur gemeinsam nach Antworten suchen.“

Eine Situation, die für Lehrer hierzulande besonders schwierig ist. Während es in den USA schon in den ersten Tagen nach den Anschlägen im Internet Ratschläge von Psychologen für Eltern und Erzieher gab, wie sie die Ereignisse mit den Kindern verarbeiten könnten, blieben die Lehrer in Deutschland sich selbst überlassen. „Außer einer allgemeinen Aufforderung, sich mit den Kindern an den Schweigeminuten zu beteiligen, gab es an unserer Schule keinerlei Auseinandersetzung mit diesen Fragen“, kritisiert Referendarin Oehlert. „Dabei habe ich mich oft nach den Stunden gefragt, ob ich das jetzt richtig gemacht habe oder nicht.“

Der Umgang mit der eigenen Hilflosigkeit und den eigenen Fragen wurde, wenn überhaupt, im privaten Gespräch thematisiert. „Eine meiner Kolleginnen war sehr, sehr deprimiert“, hat auch Lutz Robrecht, der Politiklehrer an einem Berliner Gymnasium ist, mitbekommen. „Sie hat alles gelesen, was es dazu zu lesen gab, hat sich aber mit ihrem ganzen Wissen und ihren Ängsten in sich verkrochen. Ihr hat es dann sehr geholfen, dass wir uns unterhalten haben und auch die positiven Ansätze zur Sprache kamen.“

Auch Marianne Demmer aus der Zentrale der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft kann die Fassungslosigkeit unter den Lehrern nur bestätigen. „Nach dem anfänglichen Schock blieb vor allem die Hilflosigkeit, wie man diese Themen schulisch aktiv gestalten kann.“ Der Umgang mit der eigenen Verunsicherung stelle Anforderungen an Lehrer, für die sie nicht ausgebildet sind, so Demmer. „Vielen Lehrern ist in den letzten zwei Wochen deutlich geworden, dass sie viel mehr Fähigkeiten brauchen als ihr reines Fachwissen.“ Zwar sind Psychologie und Pädagogik Bestandteile der Lehrerausbildung, aber Hilfestellung für Krisensituationen wird nicht vermittelt.

Demmer hält deshalb Krisenmanagement und Krisenintervention als Teil der Ausbildung für wünschenswert. Anita Mächler, die Gymnasialdirektorin aus Berlin, bezweifelt den Sinn solcher Maßnahmen: „Auf so eine Extremsituation kann ich mich doch weder als Mensch noch als Lehrer vorbereiten!“

Seit den Attentaten sind mehrere Wochen vergangen. Aber nach den Vergeltungsschlägen der Amerikaner in Afghanistan halten es Lehrer wie Lutz Robrecht wieder für richtig, das Thema in den ersten Minuten jeder Unterrichtsstunde zu behandeln. „Was gibt es Neues seit dem letzten Mal?“, fragt er, und die Schüler legen los. Die Reaktionen sind inzwischen sehr unterschiedlich. Einzelne sind bestens informiert. Andere beklagen die andauernde Unterbrechung ihrer Lieblingssendungen im Fernsehen. „Mir geht das total auf die Nerven, man wird so vollgepumpt, ich will doch auch mal wieder lachen können“, begründet zum Beispiel die 16-jährige Canan Tecimen ihre Unlust, sich weiter mit dem Thema Terror und Krieg zu beschäftigen. Andere interessieren sich jetzt wieder brennend für die neuesten Entwicklungen, lesen Zeitung und schauen nächtelang Nachrichten.

Eines ist sowohl Lutz Robrecht als auch Anita Mächler nach den Anschlägen aufgefallen: Das Interesse der Schüler an Politik ist gewachsen. „Bei manchen hat man wirklich das Gefühl, dass sie über Nacht erwachsen geworden sind“, stellt Robrecht fest. Die Wissbegier sei deutlich größer als vorher. Konflikte und Zusammenhänge würden plötzlich sehr bewusst wahrgenommen, Handlungsalternativen und Konsequenzen überdacht. Für die 16-jährige Lena Sperber ist das nichts Außergewöhnliches. „Es ist doch klar, dass ich mich jetzt mehr mit Politik beschäftige als vorher.“ Die Diskussion in ihrer Klasse war intensiv. Ist es da nicht schade, dass sie nur selten die Gelegenheit haben, mit ihren Lehrern zu diskutieren? Schulterzucken bei einem anderen Schüler: „Was soll ich denn mit meinem Mathelehrer darüber reden, der hat doch noch weniger Ahnung als ich!“

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