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Charakterköpfe mit heißen Herzen

Fast 70 Jahre nach ihrem Rauswurf aus der Hochschule hat die Berliner Humboldt-Universität 50 meist jüdische „Kommilitonen von 1933“ für eine Woche eingeladen, um mit heutigen Studenten ihre alte Alma Mater und das neue Berlin zu erleben – 22 kamen. Die Jüngsten waren 86 Jahre alt

Wir sollten als Wölkchen im Himmel über Auschwitz enden, sagt Stefan Heym

von PHILIPP GESSLER

Albert Einstein lacht nicht mit. Dabei geht es um ihn: Volkmar Zühlsdorff (88) erzählt von der Einladung des Ehepaars Einstein zu sich nach Hause. Das Physik-Genie hatte so viel zu berichten, dass ihn seine Frau ermahnte: „Albert, schwätz net so lang, d’ Spätzle wänd kalt.“ Die alten Herrschaften am Tisch lachen, nur die Büste Einsteins verzieht keine Miene. Alfred Feiler (88) gibt zum Besten, wie das war, als sie Ende der 20er bei „Bar Kochba“ immer gegen einen „rein arischen“ Konkurrenzsportclub den Sieg im 50-Kilometer-Lauf von Potsdam nach Berlin unter sich ausgemacht hätten – die jüdischen Sportler mussten sich beim Lauf den Schlägen der Zuschauer widersetzen. Und Harry Salinger (91) erzählt den Witz, wie deutsche Emigranten in Israel, „Jeckes“ genannt, eine Menschenkette bilden, um Ziegel auf einen Dachstuhl zu bekommen: „Bitte, Herr Professor“ – „Danke, Herr Doktor“ – „Bitte, Herr Professor“ – „Danke, Herr Doktor“ . . .

Viele Geschichten sind hier beim Festessen im Senatssaal der Humboldt-Universität direkt Unter den Linden zu hören, viel Geschichte ist versammelt: Es ist der erste Abend eines einmaligen Projektes, das die älteste Universität der Hauptstadt bis zum Ende dieser Woche veranstaltet hat – einmalig, da es, wie es der Hauptorganisator, der Historiker Peter Nolte, ausdrückt, „in dieser Form unwiederholbar sein wird“: Nach fast 70 Jahren lädt die traditionsreichste Alma Mater Berlins ihre „Kommilitonen von 1933“ zu sich: Studenten, die nach Hitlers Machtantritt aus „rassischen“ oder politischen Gründen der Uni verwiesen wurden oder ihr Studium wegen der Prügeleien mit Nazis abbrachen.

Etwa 9.000 junge Menschen studierten damals an der Uni, die als eine der besten der Welt galt und Nobelpreise sammelte wie heute vielleicht Harvard. Unter ihnen waren ungefähr 2.200 Juden – alle mussten ihre Hochschule verlassen. Eine Katastrophe für sie und die Universität. Gegenüber dem Hauptgebäude, auf dem heutigen Bebelplatz, einsehbar von den Festgästen im Senatssaal, mussten viele von ihnen erleben, wie die Nazis „undeutsche“ Bücher der Uni-Bibliothek ins Feuer warfen. Bald brannte es in den Synagogen Berlins, später in den Krematorien im Osten. Wie viele der relegierten Studenten die Schoah überlebten, ist unbekannt.

Fast 50 der „Kommilitonen von 1933“ aber leben noch – zu den Prominenteren unter ihnen gehört der Schriftsteller Stefan Heym (88), der Kunstsammler Heinz Berggruen (87) und der langjährige Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, Gerhart Riegner (89). Er wurde nach dem Krieg bekannt durch ein Telegramm an die Allierten, in dem er sie schon 1942 über den angelaufenen Genozid an den europäischen Juden informierte.

Zu den Eingeladenen gehört auch der Berliner Altbischof Albrecht Schönherr (90), der wohl wegen seines jüdisch klingenden Namens von den Nazis verfolgt wurde und sich etwas unchristlich mit ihnen Schlägereien in den Gängen der Uni lieferte, da er zum Umfeld Dietrich Bonhoeffers und zur „Bekennenden Kirche“ gehörte.

Die 50 Akademiker mit ihren erstaunlichen, ja oft abenteuerlichen Lebensgeschichten hat Nolte in aller Welt, vor allem aber in den USA, in Israel und Deutschland, ausfindig machen können: Die Jüngsten sind 86, die Älteste 94 Jahre alt. Vizepräsidentin Anne-Barbara Ischinger von der Humboldt berichtet, man habe eigentlich damit gerechnet, dass höchstens ein Dutzend die Einladung annehmen würde. Weit gefehlt. Die Hälfte der uralten Kommilitonen kündigte ihr Kommen an, trotz der Entfernung und der Angst nach den Anschlägen vom 11. September.

Beim koscheren Festessen bezeichnet Unipräsident Jürgen Mlynek das Projekt als „symbolische Wiedergutmachung“ für die Leiden der relegierten Studenten von damals: Viele von ihnen konnten ihr Studium im Ausland nicht mehr beenden, Karriere-, ja Lebensbrüche habe der Rauswurf aus der Universität für viele bedeutet. Eine Entschädigung dafür hat die Hochschule nie gezahlt, das war in vergangenen Jahrzehnten „nie Diskussionspunkt“. Umso wichtiger ist ihm deshalb die Zukunft, symbolisiert durch die Paten, die ihren Exkommilitonen in diesen Berliner Tagen beistehen. Es sind heutige Geschichtsstudenten, die den oft sehr gebrechlichen Kommilitonen von damals helfen, ihnen die Stadt zeigen und auch mit ihnen über das Damals und Heute diskutieren sollen. Manche von ihnen werden die Erfahrungen in Seminararbeiten analysieren, andere sollen „in schweren Zeiten“, wie Ischinger es ausdrückt, von den Erfahrungen dieser „lebensgeprüften Menschen“ profitieren.

Wie das abläuft, ist am Dienstagmorgen in der Lobby eines das Projekt sponsernden Hotels am Brandenburger Tor zu erleben: Harry Salinger aus Tel Aviv versinkt fast im Sessel und gibt für seine Paten Matthias Bühnen (26) und Martin Schauer (27) Dönekes aus seinem Leben zum Besten. Nicht ganz so aufgeräumt wie sonst ist er, denn die charmante Patin Laura Rischbieter (24) ist heute nicht dabei.

Salinger erzählt von seiner Jugend in einer – „wie sagt man: betuchten“ – Familie in Berlin, in der die eigene jüdische Herkunft keine große Rolle spielte: „Wir hatten eine Stunde jüdischen Religionsunterricht in der Schule – für uns war das genug.“ Dennoch schließt sich Salinger einer zionistischen Gruppe an, wo er auch seine spätere Frau kennen lernt. Sie ist seit 67 Jahren mit ihm verheiratet und musste in Tel Aviv bleiben. Ein Handy hat er sich gekauft, um mit ihr von Berlin aus drei Mal am Tag telefonieren zu können: „Ich fehle ihr.“

An der Humboldt-Universität, die damals noch Friedrich-Wilhelms-Universität hieß, schreibt sich Harry 1930 für Germanistik und Geschichte ein: Er will Lehrer werden: „Scheinbar war ich trotz allem immer noch so deutsch, dass es für mich ganz natürlich war, dieses Fach zu belegen.“ Als die Nazis die Macht übernehmen, wandern Salinger und seine Verlobte sofort nach Palästina aus. Seine Mutter war schon in seiner Jugend gestorben, seine Schwester folgt ihm später nach, sein Vater entschließt sich, in Deutschland zu bleiben – er gilt als „verschollen“. Salinger redet nicht gern darüber, die Paten fragen nicht nach.

In Israel kann sich Salinger auf Dauer ein Studium an der Uni in Jerusalem nicht mehr leisten, er bricht es ab. Er rackert, um überleben zu können, im Hafen Jaffas, später Tel Avivs. Im Laufe der Jahrzehnte arbeitet er sich zum wirtschaftlichen Leiter des Hafens hoch – zugleich wird er Mitglied der „Hagana“, der jüdischen Untergrundarmee in Palästina: „Ich weiß nicht, wann ich geschlafen habe.“ In späteren Kriegen befehligt er als Hafenchef eine Luftabwehreinheit. Seitdem können ihn auch Selbstmordattentate nicht mehr schocken: Als sich jemand vor zwei Jahren in Tel Aviv vor ihrem Straßencafé, in dem sich Salinger seit 30 Jahren mit alten Freunden einmal wöchentlich traf, in die Luft jagte und alles im Umfeld zerstörte, wechselte der Alte-Herren-Club ungerührt zum Café gegenüber.

Salingers Paten haben ihm gespannt zugehört, Martin begleitet ihn zur Pressekonferenz der „Kommilitonen von 1933“ in der Universität. Neun alte Herren erzählen von ihrem Leben, betonen, wie wichtig ihnen der Austausch mit ihren Paten ist, und dass sie an die Festigkeit der Demokratie in Deutschland glauben. Ab und zu zittert dem ein oder anderen vor Rührung die Stimme. Hans Meyer (87) berichtet, wie oft er nach dem Rauswurf von der Berliner Uni in Frankreich, Italien, Ecuador und Amerika Prüfungen wiederholen musste, um endlich als Arzt approbiert zu werden. Eigentlich, sagt er, habe er nie mehr nach Deutschland zurückkehren wollen, dies dürfe kein „forgive and forget“-Einladung sein: „Wir können vergeben, aber nicht vergessen“, hebt er mit amerikanischen Akzent hervor. Stefan Heym sagt: Sie alle hätten nach den Plänen der Nazis „als ein leichtes Rauchwölkchen im Himmel über Auschwitz“ enden sollen – „wie Überlebende“ sähen sie denn auch aus: „Nicht sehr schön.“ Aber „Charakterköpfe“ hätten sie und „ein heißes Herz“.

Salinger saß nicht auf dem Podium. Als er später mit Martin über den Campus hinter dem Hauptgebäude schlendert, meint er, die Herren hätten doch alle etwas lang geredet. Er wäre beinahe eingeschlafen. Dann sind die „Kommilitonen von 1933“ zur Immatrikulationsfeier für die neuen Erstsemester im Audimax eingeladen. Auch hier sind die Reden lang. Salinger hat ein Pokerface aufgesetzt. Der „Studierendenvertreter“ mahnt, sich bei überfüllten Seminaren mit den Stühlen abzuwechseln und nichts aus den Handapparaten zu klauen. Die „Kommilitonen von 1933“ grüßt er nicht.

Über das ganze Gesicht strahlt Salinger, als Martin vorschlägt, die Rede der Ausländerbeauftragten ausfallen zu lassen und stattdessen den herrlichen Herbsttag zu nutzen, um durch die Stadt zu schlendern. Salinger und Martin plaudern über die Hauptstadt und das neue Deutschland. Der alte Kommilitone will alles genau wissen. Die Polizei hat den Lustgarten vor dem Dom abgesperrt – ein rollender Roboter sprengt sicherheitshalber einen herrenlosen Koffer. An dem Spektakel zeigt Salinger kein Interesse. „Bei uns haben wir das jeden Tag“, meint er trocken. Er will Berlin erleben.

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