: Kein Fall für Volksvertreter
Die neue Nato-Doktrin für Einsätze auch ohne Angriff von außen muss vom Bundestag nicht abgesegnet werden
aus Karlsruhe CHRISTIAN RATH
Der Wandel der Nato vom Verteidigungsbündnis zur globalen Ordnungsmacht bedurfte nicht der Zustimmung des Bundestags. Dies hat das Bundesverfassungsgericht gestern festgestellt. Abgelehnt wurde damit eine Klage der PDS-Bundestagsfraktion, die die Rechte des Parlaments verletzt sah. Der Zweite Senat unter Präsidentin Jutta Limbach entschied jedoch: Weil der Nato-Vertrag nicht geändert, sondern nur „fortentwickelt“ wurde, musste die Regierung keine Zustimmung des Bundestags einholen.
Im Grundgesetz heißt es: „Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln“, bedürfen der Zustimmung des Bundestags (Artikel 59 Absatz 2). Dass der Nato-Vertrag ein solcher Vertrag ist, hat niemand bestritten. Deshalb bedürfte auch jede offizielle Änderung des Nato-Vertrags einer Parlamentszustimmung. Das „Neue Strategische Konzept“ der Nato wurde im April 1999 jedoch nur als gemeinsamer „Beschluss“ der Staats- und Regierungschefs beim Nato-Gipfel in Washington verabschiedet.
Dieses Konzept war der Schlusspunkt einer rund ein Jahrzehnt dauernden grundlegenden Umorientierung des Bündnisses. Ursprünglich war die Nato nur ein Beistandspakt im Falle eines „bewaffneten Angriffs“ auf ein oder mehrere Mitglieder (Artikel 5 des Nato-Vertrages). Das neue Nato-Konzept geht aber weit darüber hinaus. Jetzt soll neben der Sicherheit auch die „Stabilität im euro-atlantischen Raum“ gesichert werden. Als Bedrohung werden neben bewaffneten Angriffen jetzt auch genannt: Terrorismus, Sabotage, Organisierte Kriminalität, „Unterbrechung der Lieferung lebensnotwendiger Rohstoffe“ sowie unkontrollierte Flüchtlingsströme. Unverblümt spricht das Washingtoner Gipfel-Papier von „non-article 5 operations“. Deutlicher kann man kaum sagen, dass der Nato-Vertrag für die neuen Aufgaben eigentlich keine Grundlage bereit hält.
Dass eine solche Neuausrichtung des Bündnisses am Nato-Vertrag vorbei beschlossen wurde, hat aber einen simplen Grund. Man wollte schwierige innenpolitische Diskussionen in den 19 Mitgliedsstaaten vermeiden. So wäre eine solche Parlamentsabstimmung für die rot-grüne Koalition in Deutschland zur Zerreißprobe geworden. Immerhin fand der Washingtoner Gipfel im Frühjahr 1999 mitten im völkerrechtlich umstrittenen Kosovokrieg statt. Und US-Präsident Bill Clinton hätte eine globale Neuorientierung der Nato wohl kaum durch den isolationistischen US-Senat gebracht.
Die PDS sah darin allerdings „die systematische Ausschaltung des Parlaments“ und erhob eine Organklage gegen die Bundesregierung. Die Klage erschien nicht völlig aussichtslos: 1994, als es um die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr ging, hatte sich Karlsruhe schon einmal mit dem Problem befasst. Damals mahnten immerhin vier von acht Richtern eine Bundestags-Zustimmung für die sich abzeichnende Neuausrichtung der Nato an.
Davon war gestern aber nichts mehr zu hören. Karlsruhe hat die Parlamentsumgehung ohne zu murren abgesegnet und durchgewunken. Das neue Konzept „stellt keine Änderung des Nato-Vertrages dar“, heißt es in dem Urteil, und deshalb „ist eine Zustimmung des Bundestags nicht erforderlich“.
Immerhin hielten es die Richter für angebracht, dass der Bundestag zu beteiligen wäre, wenn ein Vertrag stillschweigend durch eine neue Politik geändert wird. Voraussetzung hierfür ist nach Karlsruher Ansicht aber, dass diese neue Politik in „deutlichem Widerspruch“ zur bisherigen Vertragslage steht. Und einen solchen „Widerspruch“ konnten die Richter im Fall des neuen Nato-Konzeptes „nicht mit der nötigen Gewissheit“ erkennen. Schließlich, so heißt es im Urteil, bleibe das Ziel der kollektiven Verteidigung von den neuen Aufgaben „unberührt“. Und der Sicherheits- und Friedensauftrag des Bündnisses werde nur „im Hinblick auf eine tiefgreifend neue Sicherheitslage“ fortgeschrieben.
Dem Urteil zufolge hätte die Bundesregierung ihre Kompetenzen nur dann überschritten, wenn der Zweck der Nato sich „weg von der Friedenssicherung“ entwickelt hätte. Das aber sei nicht der Fall. Vielmehr wolle die Nato auch in Zukunft nur „in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht“ handeln, zitierten die Richter aus dem Washingtoner Beschluss. Damit hat Karlsruhe in diesem Fall seinen Prüfungsmaßstab denkbar großzügig gewählt: Die Bundesregierung verlasse das „Integrationsprogramm“ des Nato-Vertrages nur, wenn sie sich über dessen „wesentliche Strukturentscheidungen“ hinwegsetze.
Wenn es um die EU-Integration oder andere Verträge geht, wird das Verfassungsgericht sicher wieder genauer prüfen. Eine generelle Entmachtung des Parlaments ist allerdings nicht zu sehen. Der Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze der Bundeswehr wurde ausdrücklich bekräftigt.
Es fällt allerdings auf, dass das Gericht diesmal nicht das Abstimmungsergebnis mitteilte. Möglicherweise wollte man angesichts des Afghanistan-Krieges den Burgfrieden wahren und die PDS nicht durch Sondervoten und das Erlebnis einer knappen Niederlage aufwerten. Sollte das Urteil allerdings einstimmig ausgefallen sein, läge der Eindruck nahe, dass SPD-nahe Verfassungsrichter die Rechte des Parlaments nur ernst nehmen, solange die SPD in der Opposition ist.
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