: Drei Schwächen, eine Zukunft
Die Nachrufe auf die Grünen häufen sich, trotzdem sind sie nicht tot. Denn sie sind frei vom sozialdemokratischen Paternalismus und vom Markt-Fundamentalismus
Überall werden bereits die Nachrufe geschrieben. Das Ableben der Grünen sei bloß noch eine Frage der Zeit. Todesursache: gebrochenes Rückgrat. Sie hätten ihre pazifistischen Überzeugungen verraten und in schäbigem Opportunismus dem innerlich abgelehnten Kriegseinsatz schließlich zugestimmt. Der Terror und seine Folgen, so lautet vielstimmig der einhellige Tenor der politischen Publizistik, haben die Grünen in ein Dilemma gestürzt, aus dem es kein Entrinnen gibt – denn auch der Ausstieg in die oppositionelle Unschuld ist politischer Selbstmord. Das tragische Ende eines langen Marsches, der diese einst so lebendig gestartete und nun allzu vernünftig gewordene Partei (so Thomas Schmid in der FAZ) „von der moralischen Selbstüberhebung in die moralische Unempfindlichkeit“ geführt hat.
Um es vorweg zu sagen: Ich teile diese Ansicht nicht, auch wenn sie dadurch Plausibilität erhält, dass die grüne Basis sie zu übernehmen scheint. Diese Diagnose bleibt in einer Vorstellungswelt befangen, die die Identität der Partei auf ihre moralischen Fixierungen verpflichten möchte. In der verlorenen Treue zu sich selbst wird ein politisch gewendeter Protestantismus beschworen, dem sich die gesamte Metaphorik von fehlendem Rückgrat und aufrechtem Gang verdankt: Hier stehe ich und kann nicht anders – und wenn die ganze Welt zugrunde geht. Ein solches Motto lebt freilich von einer selbstgerechten Gewissheit, für die Moral keine Qualität der realen Zustände, sondern der eigenen Befindlichkeit ist: eine Frage der Innen-, nicht der Außenwelt.
Hier zeigt sich die erste Schwäche der grünen Partei: Sie schaut gerne nach rückwärts und nach innen anstatt nach vorwärts und nach außen. Mit schlechtem Gewissen erinnert sie sich an ihre pazifistischen Wurzeln, wie bereits im Kosovokrieg und beim Mazedonieneinsatz. Die damalige Kritik sollte sich aber an den heutigen Tatsachen messen lassen: Serbien entwickelt sich, Mazedonien hält zusammen, das Kosovo wählt Rugova. Gelten empirische Kriterien nicht auch für die berechtigten Zweifel am „Krieg gegen den Terror“? Wer aus guten Gründen die politische Vernunft der militärischen Strategie bestritten hat, der muss sich angesichts der Bilder aus Kabul schon fragen lassen, ob er nicht in seinen Prognosen geirrt hat. Männer ohne Bärte, Frauen ohne Schleier, Kinobesucher – sind sie bloß Darsteller in einem amerikanischen Propagandafilm? Wäre der rasche Zusammenbruch des Taliban-Regimes auch ohne die Bombenangriffe denkbar gewesen? Ist die Afghanistan-Konferenz unter europäischer Moderation nicht auch Ergebnis einer erfolgreichen Strategie, die am Ende zur politischen Befriedung eines Landes führen kann, zu der es aus eigenen Kräften nicht in der Lage gewesen ist?
Der strategisch getrübte Blick verweist auf eine zweite Schwäche der Grünen. Sie verharren in einer liebenswürdigen Fremdenfreundlichkeit, aus deren Perspektive die dritte Welt aus unterdrückten, entrechteten, ausgebeuteten Ländern besteht, aus reinen Opfern also, die von den Tätern in der ersten und zweiten Welt lediglich Wohltaten wie Entwicklungshilfe, Wiedergutmachung oder Asyl verlangen dürften – aber keine politische Einmischung. Die Partei hat noch nicht erkannt, dass auf der Rückseite der Globalisierung ganze Weltgegenden in eine Situation der zivilen Unordnung geraten sind, die von den betroffenen Ländern alleine nicht mehr zu regeln sind. Die regionale Massierung von sozioökonomischen, ethnischen und religiösen Konflikten hat dazu geführt, dass „schwarze Löcher“ der Weltpolitik entstanden sind, in denen sich alle Normen menschlichen Zusammenlebens aufzulösen drohen. Hier haben sich die Business-Zentren des Drogengeschäfts, des Pornografiegewerbes, des Menschen- und Organhandels, der Kinderprostitution eingerichtet, einschließlich eines weltweit operierenden politischen Terrorismus.
Es ist freilich nicht nur die offensichtliche Überforderung solcher Krisenregionen, welche die Interventionen der Weltgemeinschaft nötig macht. Die Absatzmärkte dieser im Schatten der neuen Weltordnung expandierenden Geschäftszweige liegen nämlich vorwiegend im „dekadenten“ Westen, der die Kundschaft für die heiße Ware liefert. Es existiert eine untergründige Verbindung zwischen dem schmierigen Sex-Touristen, dem pädophilen Pornofreund, dem Todestrip des Großstadt-Junkies, dem fememordenden Satanisten, dem rassistischen Skinhead und dem religiös motivierten Selbstmordattentäter – auch wenn die Gemeinsamkeit nicht im universellen Bösen wurzelt oder im triebhaften Kern einer globalen Todessehnsucht. Die Auflösung sozialer Ordnungen, politischer Institutionen, staatlicher Strukturen unter den Bedingungen einer „runaway world“ (Anthony Giddens) führt zu universellen Formen der Haltlosigkeit, die wiederum eine fundamentalistische Gegenorientierung begünstigen. Auch das totalitäre Projekt des terroristischen Islamismus, in dem sich die fatalen Folgen einer interkulturellen Kränkung mit der Unbedingtheit einer moralischen Obsession mischen, ist symptomatisch für eine „Welt ohne Halt“ (Ralf Dahrendorf). Hier liegt die dritte Schwäche der Grünen, die auf die sozialen und kulturellen Verwüstungen des Neoliberalismus noch keine programmatische Antwort gefunden haben. Kapitalistische Globalisierung und fundamentalistischer Terrorismus haben die Neuerfindung der Politik weltweit auf die Tagesordnung gesetzt. Von einer Regierungspartei im Zentrum Europas muss man verlangen, dass sie dieser Herausforderung Rechnung trägt. Wenn die Grünen überleben wollen, hilft ihnen keine selbstbezügliche Identitätsdebatte, sondern ein weitsichtiges Politikangebot aus der Perspektive dieser einen Welt. Ihre Unverwechselbarkeit erreichen sie zunächst mit einem unverstellten Blick auf die bundesdeutsche Realität: frei vom ideologischen Ballast eines sozialdemokratischen Paternalismus, eines bornierten (und gründlich korrumpierten) Konservativismus und eines marktwirtschaftlichen Fundamentalismus – aber auch frei von der romantischen Vorstellung einer multikulturellen Kuschelgesellschaft. Ein sozialökologisch modernisiertes, zivilgesellschaftlich inspiriertes, republikanisch verfasstes Deutschland müsste dann seine Rolle in der Welt neu definieren. Ein Deutschland ohne imperialen Anspruch, aber entsprechend seinem tatsächlichen Gewicht: als Motor der europäischen Integration, als Geburtshelfer einer gerechteren Weltordnung, als anerkannter Vermittler in den von Dauerkonflikten strapazierten, chronisch erschöpften Krisenregionen.
Eine solche Vision ensteht nur aus der praktischen Antizipation einer zukünftigen Weltinnenpolitik, für die auch militärische Optionen den legitimen Charakter polizeilicher Ordnungsfunktionen erhalten. Wer sonst als die grüne Partei sollte diese Perspektive programmatisch formulieren und glaubwürdig vertreten können – auch und gerade für die nächste Generation.
MARTIN ALTMEYER
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