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„Jein“ steht nicht im Wörterbuch

Wegen ihres Votums wird ihr per E-Mail vorgeworfen, sie habe kein Gewissen: „Schäme dich!“„Vielleicht ist es eine weibliche Eigenschaft, die eigene Entscheidung noch einmal zu überdenken“

von STEFAN KUZMANY

Am 11. September war die Welt noch in Ordnung. „Hallo Irmingard“, schrieb da ein Peter im Chat des Deutschen Bundestages zum „Weltkindergipfel 2001“ an die Abgeordnete Schewe-Gerigk, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. „Kann ich meine Tochter auf das miserable Essen verklagen, auch wenn sie erst sechzehn ist?“ – „Lieber Peter“, tippte die Abgeordnete zurück, „wenn dir das Essen deiner Tochter nicht schmeckt, solltest du selbst kochen.“ Eine Sarah fragte: „Was ist dein Beitrag zu einem besseren Leben der Kinder?“ Der lieben Sarah zählt die Abgeordnete Schewe-Gerigk kurz die Erfolge grüner Kinderpolitik auf und verweist aufs Wochenende: „Die anderen Punkte bespreche ich mit dir am Freitag.“

Irmingards Ehegatte heißt Peter, ihre jüngste Tochter Sarah-Rosa. Die ist inzwischen 17 Jahre alt. Peter ist 54 Jahre alt, Lehrer für Physik und Mathe und so sehr an Autos interessiert, dass es schon mal passieren kann, dass das Telefon klingelt, und einer sagt zu Frau Schewe-Gerigk: „Sie können das Auto jetzt abholen“, und Irmingard weiß nichts von einem neuen Auto, und es stellt sich heraus: Der Peter hat ein neues Auto bestellt, ohne ihr etwas davon zu erzählen. Nun ja, eigentlich mag sie seinen Autofimmel nicht, und in seinem großen Wagen mag sie auch nicht mitfahren. Für eine Scheidung reicht das aber nicht, sagt sie im Scherz.

Manchmal ist das gar nicht so einfach mit der Politik und der Familie. Den zehnten Geburtstag der gemeinsamen Tochter Sarah konnten die Eltern nicht feiern, weil sie zur Beerdigung von Petra Kelly mussten. Geburtstage fallen eben manchmal aus, auch ihr eigener. Als der Staat Israel im Mai 1998 sein fünfzigjähriges Bestehen feierte, wollte Irmingard Schewe-Gerigk eigentlich dasselbe tun, aber es galten verschärfte Sicherheitsvorkehrungen, und sie saß fest auf einem israelischen Flughafen.

Kennen gelernt haben sich Irmingard und Peter 1982, als sie beide jeweils eine Ehe und die Mitgliedschaft in der FDP beendet hatten. In einer Doppelhaushälfte am Ende einer Sackgasse wohnt die Familie mit Kater Robin, in Hanglage, was jedoch im hügeligen Herdecke nichts Außergewöhnliches ist. Das Ehepaar ist bekannt in der Kleinstadt mit ihren 25.000 Einwohnern. Peter Gerigk ist Sprecher der Grünen am Ort, Irmingard Schewe-Gerigk saß bis zum ihrem Einzug in den Bundestag zehn Jahre lang im Kreistag.

Auch in der Friedrich-Harkort-Schule hat sie an diesem Dienstag ein Heimspiel: Den Schülern ist sie offenbar wohl bekannt, auch Sarah besucht die FHS, mit dem Lehrer der Elften ist Schewe-Gerigk sogar per Du. Hier will sie mit den Schülern Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes diskutieren, wonach Vertreter des Volkes „nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind. Gerade hat ein Halbwüchsiger Frau Schewe-Gerigk noch hämisch hinterhergespottet: „Hoho, auf zum politischen Selbstmord!“, jetzt sitzt sie neben dem Lehrer hinter dem Pult, eine dunkle Jeansjacke über dem dunklen Rollkragenpulli, und begründet wieder, was sie in den letzten Tagen schon so oft begründen musste: warum sie am vorvergangenen Freitag für den vorläufigen Erhalt der rot-grünen Koalition in Berlin gestimmt hat und damit doch für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan.

„Ich hätte auch das Koalitionsende in Kauf genommen, wenn ich damit etwas bewirkt hätte. Aber der Einsatz wäre sowieso beschlossen worden. Ich hätte einen hohen Preis gezahlt, und nichts dafür bekommen. Dieses Ja bedeutet nicht, dass ich dem Einsatz zustimme.“ Die Schüler stellen zahme Fragen, bald fallen ihnen gar keine mehr ein, dann übernimmt der Lehrer, und der ist sowieso Schewe-Gerigks Meinung. Da hatte es Irmingard Schewe-Gerigk auch schon schwerer in den letzten Tagen. Unten, in der Cafeteria der Schule, spendiert sie dem Besucher eine Tasse Kaffee: „Ich kann mir das ja jetzt leisten, ich bin ja bestochen worden.“

In E-Mails wird ihr vorgeworfen, sie habe kein Gewissen: „Schäme dich!“ Aber es gibt auch besonders freundliche Zuwendungen, unterstützende E-Mails, Menschen, die sagen: „Weil du noch bei den Grünen bist, kann ich da auch noch bleiben.“ „Wir haben da auch Alibifunktion. Wir sind die nützlichen Idioten.“, sagt Schewe-Gerigk dazu. Mit „wir“ meint sie die Gruppe jener acht grünen Abgeordneten, die mit ihrer erklärten Ablehnung des Bundeswehreinsatzes von sich reden machten.

Am Abend will Irmingard Schewe-Gerigk den grünen Kreisverband Bochum besuchen, um sich auch dort zu erklären. Auf der Fahrt in ihrem rapsölbetriebenen Drei-Liter-VW kann sie nicht sagen, was sie bei den Parteifreunden erwarten wird. Der Bochumer Kreisverband gilt als links. Und noch vor wenigen Wochen ist sie hier auf einer Friedensdemo als Rednerin gegen die Bomben auf Afghanistan aufgetreten.

Zwölf Mitglieder des grünen Kreisverbands Bochum sitzen um einen langen Tisch, trinken Saft und Bier. An der Wand prangen Aufkleber aus früheren Zeiten: „Atomkraft? – Nein danke“, „Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall“, „Ihr geht mit der Welt um, als hättet ihr eine zweite im Keller“. Die Bochumer diskutieren gerade den Entwurf einer Presseerklärung ihres Kreisverbands: „Krieg ist kein Mittel der Politik und wird die Gewaltspirale weiter anheizen.“ Die Arme verschränkt, die dunkle Jeansjacke nicht ausgezogen, die Lippen schmal, blickt Irmingard Schewe-Gerigk in die Runde. Sie soll erst mal erzählen, aus ihrer Sicht. Also erklärt sie noch mal – und alle scheinen froh, nicht in ihrer Haut gesteckt zu haben. Es entspinnt sich eine Diskussion über richtige und falsche Wege, auf den Terror zu reagieren, und die Abgeordnete entspannt sich sichtlich, weil sie einmal nicht Zielscheibe der Kritik ist. Eine muss früher weg: „Mal sehen, ob ich nächsten Dienstag wiederkomme“, verabschiedet sie sich. „Mal sehen, ob wir am nächsten Dienstag überhaupt wiederkommen“, antwortet ein anderer sarkastisch.

Auf der Heimfahrt im Rapsölauto ist Irmingard Schewe-Gerigk zwiespältig. Einerseits: „Wir hätten noch einiges in der Schublade“, es seien zwar schon einige Reformen auf den Weg gebracht, aber vier Jahre Regierung, das sei doch zu kurz. Andererseits: Die Opposition täte den Grünen vielleicht auch gut.

Eigentlich würde sich Irmingard Schewe-Gerigk auch mal etwas mehr Aufmerksamkeit wünschen für die Themen, mit denen sie sich eigentlich beschäftigt, wenn nicht gerade Regierungskrise ist, etwa ihr Engagement als frauenpolitische Sprecherin der Fraktion. Als es um das neue Prostitutionsgesetz ging, für das sie sich sehr eingesetzt hatte, da hat Sabine Christiansen nicht sie, sondern den Kollegen Cem Özdemir eingeladen, weil der prominenter ist. Der musste sich erst mal von Schewe-Gerigk auf den Stand bringen lassen.

Erst zweimal hat sie es auf die erste Seite von Bild gebracht: einmal, als sie forderte, Männer sollten sich mehr an der Hausarbeit beteiligen; und als sie mit ihrer Stimme die Koalition hätte beenden können. Und wer interessiert sich für ihren Plan, die Altersheime abzuschaffen, die Pflege dezentral zu organisieren? Warum muss sie sich ständig erklären? Warum fragt niemand die vielen Fraktionskollegen, für die die Zustimmung für den Einsatz nie ein Problem war? Warum fragt niemand die von der CDU und FDP, die – wider ihre Einstellung – gegen den Einsatz gestimmt haben?

Bis zum vorletzten Montag war alles klar für Irmingard Schewe-Gerigk: sie würde im Bundestag den Militäreinsatz ablehnen; so, wie sie es in der gemeinsamen Erklärung der acht grünen Abweichler angekündigt hatte. Am Dienstagmorgen, sie traf sich mit einigen SPD-Kolleginnen zum Koordinierungsgespräch, erfuhr sie von des Kanzlers Verknüpfungsstrategie. Am Nachmittag war der Kanzler dann in der Grünen-Fraktion aufgetreten, um seine Entscheidung zu verkünden.

Ein Auftritt, den Schewe-Gerigk im Gegensatz zu Fraktionskollegen als nicht gerade überzeugend beschreibt. Wer so ein großes Problem mit seinem Gewissen habe, hatte der Kanzler gesagt, der solle eben sein Mandat zurückgeben. Darüber kann sich Schewe-Gerigk auch noch eine Woche später aufregen: „Was ist denn das für ein Demokratieverständnis?“ Bei sechs der acht Abweichler sei das Nein unumkehrbar gewesen, berichtet sie. Und vielleicht sei es ja eine weibliche Eigenschaft, noch mal in sich zu gehen, bereit zu sein, die eigene Entscheidung zu überdenken.

In der Nacht zum Donnerstag sei dann ihre Entscheidung gefallen, in einer Nacht mit wenig Schlaf und Telefonaten mit ihrer besten Freundin aus Gießen und ihrem Ehemann. Die hätten ihr Unterstützung zugesagt, in jedem Fall. Also stimmte Irmingard Schewe-Gerigk mit Ja, um die Entscheidung über die Koalition der Partei zu überlassen. Schewe-Gerigk jedoch hätte gar kein Problem damit, nicht mehr im Bundestag zu sitzen, sagt Schewe-Gerigk, jetzt auf dem weißen Ledersofa daheim in der Doppelhaushälfte, dunkel gekleidet, weiße Birkenstock-Sandalen an den Füßen, ein wenig erholter diesmal, denn sie ist heute schon eine halbe Stunde lang gelaufen, „nicht für die Beine, für den Kopf“.

„Es wird sehr schwer für die Grünen bei der nächsten Wahl“, sagt sie. Und wenn es für sie nicht mehr klappt? Dann würde sie eben wieder an die Fernuni Hagen zurückkehren. Nein, sie sei auf die große Politik nicht angewiesen. In eine andere Partei? Die PDS? Nein, sicher nicht. Die gebe sich zwar den Anstrich einer Friedenspartei. Da seien zwar ganz gute Leute dabei und einige von den Frauen dort machten auch gute Sachen, „fast grün“, aber die Partei als Ganze, ihre Struktur, nein, das sei nichts für sie. Und zurück in die Regionalpolitik im Kreistag? Nein, bei allem Respekt für die Kollegen, das hatte sie schon zehn Jahre. Obwohl: Bürgermeisterin von Herdecke, das könnte sie sich schon ganz gut vorstellen. Auf dem Dach eine Solaranlage, aus dem Garten Erdwärme, Schewe-Gerigk ist unabhängig.

Neben der Tür, die vom Wohnzimmer auf den Flur führt, liegt auf einem Sideboard eine Ausgabe des Korans, in rotes Leder gebunden, kaum zu übersehen, und als Irmingard Schewe-Gerigk den Besucher hinausbegleitet, pocht sie mit der Hand kurz darauf, nur kurz, aber jetzt ist der Koran wirklich unübersehbar, und unübersehbar ist auch: Irmingard Schewe-Gerigk macht sich Sorgen um den Frieden.

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