: „Auch Jesus hat sich geopfert“
Interview SUSANNE KNAUL
taz: Herr Rantisi, die USA setzen die palästinensische Führung unter Druck, und Palästinenserpräsident Arafat möchte gern der Koalition der Guten, derjenigen, die gegen den Terror kämpfen, angehören. Auf der anderen Seite stehen die Hamas und Bin Ladens al Qaida. Fühlen Sie sich in guter Gesellschaft?
Abdel Asis Rantisi: „Diejenigen, die als Terroristen verfolgt werden sollten, sind die Israelis. Sie greifen unsere Städte an, töten unsere Jugendlichen und setzen die Besatzung fort. Ich weiß, dass Herr Arafat die palästinensischen Bewegungen als nationale und legitime Bewegungen betrachtet, die nur ihr Volk und ihr Land befreien wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Arafat dem Druck der USA nachgeben wird und Hamas, den Islamischen Dschihad, die Fatah und die Volksfront als Terrororganisationen verfolgen wird.
Nach den Terrorschlägen vom 11. September ist alles anders. Können Sie sich irgendeine Entwicklung vorstellen, die im Sinne der Hamas wäre?
„Die Lehre, die wir daraus ziehen müssen, ist, dass die Politik der USA und des Westens andere Völker erniedrigt. Die USA entziehen anderen Völkern die wirtschaftlichen Ressourcen, indem sie Besatzungsmächte unterstützen, indem sie etwa die Israelis mit Waffen versorgen, die damit im Gaza-Streifen und im Westjordanland Unschuldige töten. Wenn die USA dem, was sie Terror nennen, ein Ende machen wollen, müssen sie ihre Politik der Welt gegenüber verändern.
Betrachten Sie Ussama Bin Laden als Wortführer der Armen und Unterdrückten dieser Welt?
Nein, Ussama Bin Laden ist der Anführer derer, die ihr Land befreien wollen, die Aggression und Leid ein Ende bereiten wollen. Er ist ein Mann, der um das Wohl seines Volkes besorgt ist.
Auch das der Palästinenser?
Sie wissen, dass Palästina ein Teil der islamischen Welt ist. Wir Palästinenser genießen die Sympathie der Muslime weltweit, einer von ihnen ist Ussama Bin Laden.
Es scheint so zu sein, dass, wann immer Arafat entscheidet, den Terror einzustellen, der Terror eingestellt wird.
Ich habe von Arafat das Wort „Terror“ in diesem Zusammenhang noch nie gehört. Er wird den Kampf seines Volkes so nicht bezeichnen. Wir kämpfen für die Befreiung unseres Landes. Wir appellieren an die Israelis, die Aggressionen und die Besatzung einzustellen und das Leiden von vier Millionen Palästinensern, die nicht in ihrer Heimat leben, zu beenden.
Welchen Terminus würden Sie wählen für den Tod von 20 Menschen, die ein Tanzlokal in Tel Aviv besuchen wollten?
Wie nennen Sie den Mord an 800 Palästinensern, über 200 von ihnen Kinder. Würden Sie das Terror nennen? Wie nennen Sie den Mord an Mohammad al-Dura [der 12-Jährige wurde ganz zu Beginn der Intifada im September 2000 erschossen und dadurch zum Märtyrer – d. Red.]? Ist das Terror oder nicht? Was ist Ihrer Meinung nach die Definition von Terror? Wir verteidigen uns nur.
Es ist also ein Akt der Selbstverteidigung?
Bitte hören Sie mir zu: Israels Ministerpräsident Scharon hat vier Mitglieder der Al-Saade-Familie in Bethlehem getötet. Es gab keinen Vergeltungsakt von Seiten der Hamas. Fünf Tage darauf tötete Scharon einen palästinensischen Aktivisten in Nablus. Keine Vergeltung. Nach weiteren vier Tagen tötete Scharon acht Palästinenser in Nablus, zwei von ihnen führende Aktivisten der Hamas und zwei Kinder. Zwei Tage später tötete Scharon einen weiteren Aktivisten in Tulkarem. Darauf reagierte die Hamas mit dem Angriff auf die Pizzeria „Sbarro“ in Jerusalem [bei diesem Anschlag kamen im August fünfzehn Menschen ums Leben – d. Red.]. Danach stellte Scharon die Exekutionen für über zwei Monate ein. Was wir tun, zielt darauf ab, Scharon dazu zu bringen, mit dem Morden aufzuhören. Scharon hat die Exekutionen erst wieder aufgenommen, nachdem beide Seiten die so genannte Waffenruhe ausgerufen hatten, als Arafat erklärte, er werde alle Aktionen von unserer Seite stoppen. Ja, es ist eine Art der Selbstverteidigung. Wir haben keine anderen Mittel, Scharon dazu zu bewegen, das Blutvergießen und die Besatzung zu beenden.
Es scheint, als gäbe es viele Freiwillige für die Selbstmordattentate. Wie erklären Sie sich diese Motivation, zu sterben?
Was hat Jesus für die Menschen getan? Er hat sich geopfert. Das Gleiche tun diese Palästinenser. Sie opfern sich, um ihr Volk zu verteidigen. Sie opfern sich für das Heilige Land und für die heiligen Stätten. Sie empfinden den nationalen Drang dazu.
Es sind alles Jesuse?
Glauben Sie mir – nicht mehr und nicht weniger. Diese Märtyrer verteidigen ihr Land. Sonst würde sich niemand selbst in die Luft sprengen.
Woran liegt es, dass es keine Frauen gibt, die zu solch einem Opfer bereit wären?
Frauen sind für den Dschihad (heiligen Krieg) nicht vorgesehen. Das ist den Männern vorbehalten.
Nach 14 Monaten des Kampfes hat sich die Intifada nicht gerade als erfolgreich erwiesen. Ist es nicht an der Zeit, die Strategie zu ändern?
Nein. Wir haben keine andere Option. Wir dürfen nicht vergessen, dass es vor diesen 14 Monaten 9 Jahre der Verhandlungen gegeben hat, ohne jedes Ergebnis. Wir stehen heute vor der Wahl: Entweder setzen wir die Intifada fort oder wir geben den Israelis nach und akzeptieren die Besatzung. Wir wissen, dass uns die Intifada teuer zu stehen kommt. Aber es gibt keine Alternative.
Wenn Arafat entscheidet, die „Akte der Selbstverteidigung“ einzustellen, dann werden sie eingestellt. Richtig?
Nein. Arafat wird auf keinen Fall zulassen, dass Scharon uns weiter tötet und wir das Blutvergießen schweigend hinnehmen.
Können Sie mir Ihr Verhältnis zu Arafat beschreiben?
Wir sind Palästinenser. Wir haben ein Komitee, das alle palästinensischen Organisationen repräsentiert. Die Hamas ist Mitglied im Komitee. Gemeinsam entscheiden wir über den palästinensischen Kampf und die nächsten Schritte der Intifada.
Wann haben Sie das letzte Mal mit Arafat gesprochen?
Ich persönlich? Ich glaube, das war vor etwa drei Monaten.
Was war der Anlass?
Es hatte mit möglichen Verhaftungen zu tun.
Was würde passieren, wenn es Verhaftungen gäbe?
Die Leute sind alle gegen Verhaftungen. Wenn die Führung damit beginnen sollte, Palästinenser zu verhaften, müssten sie das gegen den Willen des Volkes tun. Ich kann mir das nicht vorstellen. Sobald die Führung dem äußeren Druck nachgibt, wird sie mit Druck aus den eigenen Reihen konfrontiert werden.
Können Sie sich vorstellen, dass, sollte Arafat doch Verhaftungen vornehmen, ein palästinensischer Jigal Amir [Mörder von Rabin] daherkommt und einen Anschlag auf Arafat unternimmt?
Niemand denkt an so etwas. Wir sind Muslime. Grundloses Blutvergießen ist in unserer Religion verboten.
Und wenn es einen Grund gäbe?
Selbst wenn ich persönlich verhaftet werden sollte – wir haben immer klar gemacht, dass wir Blutvergießen unter Palästinensern nicht gutheißen.
Besteht die Möglichkeit eines Umsturzversuchs gegen Arafat?
Das wird nicht passieren. Wir leben im Gaza-Streifen wie in einem großen Gefängnis. Wir sind hier nicht in Algerien oder in Ägypten. Wenn es hier zu einem Bürgerkrieg kommen sollte, würde es in jedem Heim brennen.
Die Intifada hat das palästinensische Volk vereint. Seit dem 11. September wächst die Kluft aber wieder. So wurden nach den ersten US-Angriffen auf Afghanistan drei palästinensische Demonstranten mitten in Gaza erschossen.
Das waren Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Polizisten, nicht zwischen Hamas und Arafats Fatah.
Glauben Sie, dass sich so etwas wiederholen könnte?
Es liegt im Interesse aller Palästinenser, dass das nicht geschieht.
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