Lehrreicher als die Lindenstraße

Mit „Die Manns – ein Jahrhundertroman“ ist Heinrich Breloer und Horst Königstein ein Geniestreich gelungen: Per Doku-Drama eine deutsche Bürgerfamilie verstehen lernen, in der die Frauen den Ton angaben (Mi.–Fr., jeweils 20.45 Uhr, Arte)

von JAN FEDDERSEN

Ohne Medi, sagt Mitautor Horst Königstein, hätte dieser Film nie gemacht werden können. Medi, das ist Elisabeth Mann Borgese, jüngstes der sechs Kinder von Katia und Thomas Mann. Keine ihrer Schwestern Erika und Monika, keiner der Brüder Klaus, Golo und Michael leben mehr. Nur sie, 1918 geboren, erfreut sich, wie man dem Film „Die Manns“ entnehmen kann, bester Gesundheit.

Medi, das war Thomas Manns Lieblingskind, die Kleine, die sich von der großschriftstellerischen Aura ihres Vaters nicht hat einschüchtern lassen. Ein Mädchen, das den Vater zu sich heranwinkte, das ihn als Vater nahm und nicht als übermächtige Figur. Vielleicht hat sie deshalb überleben können: weil sie, so Königstein, sich erst gar nicht die Mühe machte, sich vom Vater (und der Mutter) abzugrenzen, sich an ihren Vorgaben und Wünschen abzuarbeiten.

Heinrich Breloer und Horst Königstein, seit mehr als zwei Jahrzehnten die Regisseure der großen öffentlich-rechtlichen Budgets („Das Todesspiel“) und der fast unbegrenzten Zeitrahmen (allein der dreiteilige Film erstreckt sich über fünf Stunden und sieben Minuten, dazu kommen noch einmal 270 Minuten Dokumentation), gingen nicht als „Die Dynastie Mann“-Forscher an ihr Thema heran. „Wir mussten auf die Philologien zum Thema keine Rücksicht nehmen. Uns interessierte die Familie und wie sie funktionierte“, sagt Königstein. Und eben dies gelang, weil sie bereits 1997 die heute in Kanada lebende Elisabeth Mann Borgese überreden konnten, die Geschichte ihrer Familie, ihre „Tiefen und Untiefen“ (Breloer) zu erzählen.

Mühelose Collage

Mann Borgese hat sich offenbar gerne auf diese Reise eingelassen. Fast mühelos entsteht mit ihrer Hilfe die Collage einer Familie, in der es keineswegs so steif und nobilitiert zuging, wie es die Romane Thomas Manns nahe legen: Der bürgerliche Lebensstil war dem „Zauberer“ (wie er so ehrfurchtsvoll wie spielerisch von seiner Familie genannt wurde) offenkundig mehr Sehnsucht als ein realistisches Bild.

Es war gewiss von Vorteil für dieses gesamte Projekt, dass sowohl Breloer als auch Königstein sich keiner Fangemeinde zugeschlagen haben: weder der Thomas Manns noch der seines Bruders Heinrich, erst recht nicht der des ersten Sohnes Klaus, aber auch nicht der des jüngsten Kindes Medi. Sie erscheinen nur auf einem Bild als Familie – und zwar der modernsten Sorte. Ein Fleisch gewordenes Panorama mit (oft) enttäuschten und (selten) erfüllten Hoffnungen, Eifersüchteleien (unter Geschwistern, Eheleuten), Triumphen (Thomas Mann) und Niederlagen (der Söhne Golo und Michael), eine Mischung aus fassungslos machenden Lieb- und Respektlosigkeiten (Thomas und Katia Mann halten die Beerdigung ihres Sohnes Klaus in Südfrankreich nicht des Besuchs für wert), der Begierden (des Sohnes Klaus) und der Gier (des Vaters), des Sexes und der Erotik, des Verzichts und der Langeweile.

Kurzum: Schlecht wäre die Trilogie geraten, hätten Breloer und Königstein sich lediglich auf Thomas Mann kapriziert und ihm mit den Mitteln des aufgeklärten Journalismus ein Denkmal zu konservieren versucht. Stattdessen gelingt es ihnen nicht nur, den bisher oft unnahbar empfundenen „Zauberer“ dank seiner Lieblingstochter Medi zugänglicher zu machen, sondern auch, allen anderen Mitgliedern der Familie so etwas wie Gerechtigkeit angedeihen zu lassen: Niemand konnte so recht aus seiner Haut, keiner vermochte wirklich von der Familie zu lassen, alle litten bis ans Ende ihrer Tage an den Verletzungen und Demütigungen, doch an den Geborgenheiten dieser Familie.

Das ist, wenn man so will, viel besser (weil lehrreicher) als fünfzig Folgen Lindenstraße. Hier ist Familie ohne Schmus zu sehen. Die Familie Mann gerät diesem Film zum Musterprojekt der Moderne. Alle miteinander und alle gegeneinander – und lassen können sie nicht voneinander. Das hat am Ende mehr Wohngemeinschaftsflair, mehr „Big Brother“-Aura als vermutet. Die Familie Mann (und eben nicht nur sie) als chronisches Selbstverwirklichungsprojekt.

Dass die Manns sich im Laufe der Jahre vor den Nazis retten müssen, ins Exil gehen, schließlich Deutschland wieder zu ihrer (demokratischen) Sache machen, spielt dabei fast keine Rolle: Einer Familie, die so spannungssatt miteinander ins Gehege geht, ist alles Äußere nur äußerlich. Oder wie Monica Bleibtreu als Katia Mann zu ihrem Gatten in Zürich sagt, als in der neuen Exilbehausung der alte Schreibtisch steht: „Jetzt kannst du wieder schreiben.“

Familien-Managerinnen

Apropos Monica Bleibtreu, Veronica Ferres, Sophies Rois und Stefanie Stappenbeck; nichts gegen Armin Müller-Stahl als Thomas und die anderen Männer dieser Familie: Die Frauen halten die Fäden stehts in der Hand. Hart und bisweilen unbarmherzig sind sie die Managerinnen und Intendantinnen der Familie – bisweilen gnadenlos. Breloer und Königstein haben ihren Schauspielerinnen zu verdanken, dass diese Struktur der Mann-Familie offenbar wird.

Die Männer sind die Diven, die Frauen ihre Impresaria. Sie sind die härteren Figuren, weil wenig zimperlich, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen geht. Sie haben ihre Männer alle überlebt – am zufriedensten Medi Mann.