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Liste des Grauens

Das Martyrium von zwei kleinen Mädchen dauerte mehrere Jahre. Seit gestern stehen der leibliche Vater und die Stiefmutter vor Gericht

von PLUTONIA PLARRE

Gemessen an dem Martyrium, das den beiden Schwestern Nadin und Janin (*) in ihrem kurzen Leben wiederfahren ist, ist die Sache mit dem Putz harmlos. Ob es oft vorgekommen sei, dass die Kinder Putz gegessen hätten, wurde die Angeklagte Petra R. gestern vor Gericht gefragt. „Ja“, antwortete die Frau nach kurzem Zögern. „Es sind mehrere Löcher in der Wand entstanden.“

Die 31-jährige Petra R. und der 25-jährige Andreas R., beide Sozialhilfeempfänger, stehen seit gestern wegen Kindesmisshandlung vor Gericht. Andreas R. ist der leibliche Vater von Nadin und Janin, die heute sechs und fünf Jahre alt sind. Petra R. ist die Stiefmutter. Unter dem Kennwort „Einsames Herz“ hatte sie Andreas R. Ende 1996 via Chat im Internet kennen gelernt. Ein Vierteljahr später heirateten sie – die sportliche, resolute Frau den jugendlich wirkenden Mann. Nadin war etwas mehr als ein Jahr alt, Janin drei Monate.

Die Anklage liest sich wie eine Liste des Grauens. Mindestens 21 Mal soll Andreas R. vor allem Nadin gequält und misshandelt haben. Tatzeitraum ist Februar 1998 bis Februar 2001. Petra R. wird Unterlassung vorgeworfen, weil sie den Mädchen in der Regel der Fälle keine Hilfe leistete. Laut Anklage wurde Nadin mehrmals so kalt geduscht, dass sie die Besinnung verlor. Häufig musste sie sich stundenlang in eine Ecke der Wohnung stellen. Sie wurde gezwungen, auf den Teppich zu urinieren oder zu koten und die Exkremente aufzuessen. Wenn sie dabei einschlief, wurde ihr Gesicht in die Urinlache gedrückt oder sie wurde geprügelt und getreten. Bei Schneefall musste das Kind leicht bekleidet stundenlang auf dem Balkon hocken. Auch in der Wohnung musste es manche Tage nackt herumlaufen.

Im Sommer 2000 war Petra R. aus der Wohnung in Neukölln ausgezogen. Vor Gericht sagte sie gestern zur Begründung: „Ich konnte mir die Misshandlungen nicht mehr angucken und nicht mehr mitmachen.“ Es verging aber noch ein Dreivierteljahr, bis die Frau ihren Vater mit einem Videofilm zur Polizei schickte. Die Kinder wurden Andreas R. noch am selben Tag weggenommen. Eine schlüssige Antwort auf die Frage, warum sie nichts zum Schutz der Kinder unternommen habe, blieb die Angeklagte gestern schuldig. Sie habe sie zum Teil nur deshalb mit bestraft, damit es nicht so schlimm ausfalle wie bei ihrem Mann, sagte die Frau. Sie habe zunächst auch keine Beweise gehabt. Das Video habe sie erst im Frühjahr 2001 gefunden, als sie die gemeinsame Wohnung ausgeräumt habe. „Und was ist mit den Hämatomen der Kinder? Sind das keine Beweise?“ fragte der Vorsitzende Richter – Schweigen.

Andreas R. verweigerte die Aussage. Mit Augen schmal wie Schlitze verfolgte er die Aussage seiner Noch-Ehefrau. Nach ihrer Aussage saß er „24 Stunden“ täglich am Computer und rastete sofort aus, wenn sich die Kinder regten. Er habe die Mädchen im Kinderzimmer eingeschlossen. In Ermangelung von Spielzeug hätten diese dort die Exkremente aus dem Töpfchen an die Wände geschmiert, was zu neuen Bestrafungsszenarien geführt habe. „Wenn überhaupt, sind wir nur nachts rausgegangen, damit man die blauen Flecken nicht sieht“, sagte die Angeklagte.

Auf die Frage des Richters, wie sie den Zustand der Geschwister beschreiben würde, sagte die Angeklagte nach einer langen Pause: „Ich würde sagen, dass die Kinder seelisch kaputt sind.“ Der Prozess wird am Donnerstag fortgesetzt.

(*) Namen geändert

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