Gysis historischer Händedruck

In der Berliner Koalitionsvereinbarung befreit sich die PDS vom Trümmerschutt des SED-Erbes – und begräbt den alten Hass auf die Rivalin SPD

von CHRISTIAN SEMLER

Wenn vom Nutzen der Geschichte für den politischen Gebrauch die Rede ist, dann spricht man von Geschichtspolitik. Ein gutes Viertel der Präambel zur rot-roten Koalitionsvereinbarung in Berlin ist geschichtspolitischen Zwecken gewidmet. Es geht darum, dass der künftige Partner PDS sich durch unzweideutige Urteile von dem Trümmerschutt befreit, der in Form des SED-Erbes auf ihm lastet – und dass er damit für die SPD koalitionsfähig wird.

Bis in die jüngste Zeit waren die öffentliche Stellungnahmen der PDS – zum Beispiel zu der Zwangsvereinigung mit der SPD in der Sowjetischen Besatzungszone 1946 – von der Rücksichtnahme auf einen Teil der ehemaligen SED-Aktivisten geprägt. Dieses parteiinterne Manövrieren zwischen Zugeständnissen an die historische Wahrheit und trotzigem Beharren ist nach dieser Präambel entschieden schwieriger geworden.

Die PDS hat in der Präambel viel zugestanden, allerdings noch mehr gewonnen. Die ganze Präambel ist durchtränkt vom Geist der Sozialintegration, dem „Zusammenführen“ von Ossis und Wessis. Wobei man eine Art Melange zwischen der PDS-Parole „Respekt vor den gelebten Biografien“ und dem alten Johannes-Rau-Slogan „Zusammenführen statt Spalten“ beobachten kann. Der PDS ist es also gelungen, die Koalition als eine Art Projekt zur Vollendung der deutschen Einheit auf hauptstädtischem Boden zu interpretieren – und sich damit als Vollstrecker des Wählerwillens Ost zu stilisieren.

Als Gegenleistung fehlt es nicht an eindeutigen Worten zu den drei historischen Komplexen, an denen sich die Verurteilung des SED-Regimes festgemacht hat: der Zwangsvereinigung des Jahres 1946, der Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 und dem Bau der Mauer samt nachfolgendem Schießbefehl am 13. August 1961. Am erstaunlichsten ist die Verwendung des Totalitarismusbegriffs im Zusammenhang mit dem Mauerbau, setzt dieser Begriff doch in seiner vorherrschenden Deutung eine Gleichsetzung des realsozialistischen mit dem Naziregime voraus – eine Geschichtsdeutung, die nicht nur von PDSlern entschieden abgelehnt wurde und wird.

Bedeutsam ist die Zustimmung der PDS zu Interpretationen, die die Maßnahmen der SED nicht als zwangsläufige Folge des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation darstellt, zu deren Opfern wir irgendwie alle geworden sind. Dieser Art von Objektivismus, zu dem nach wie vor viele DDR-Apologeten neigen, wird der Boden entzogen. Die Verantwortung der SED für den Mauerbau und seine Folgen wird eindeutig festgelegt.

Dass die SED bleibend Schuld auf sich geladen hat: Dieses Bekenntnis fällt nicht schwer, denn der Schuldige ist 1990 verblichen. Dass aber künftig nicht verdrängt und nicht vertuscht werden darf, dass offener Umgang mit Verbrechen geübt, dass Verantwortung übernommen, den Opfern Respekt gezollt, ihr Andenken geehrt werden soll – all diese schönen Dinge werden in der Präambel zur Voraussetzungen der „inneren Einheit“ gemacht, und damit auch zu Voraussetzungen der Koalition.

Darin steckt hinsichtlich des schwierigen Umgangs mit den Opfern des SED-Regimes eine Selbstverpflichtung beider Seiten – also auch der PDS. Dies umso mehr, als die PDS nie einen klaren organisatorischen Trennungsstrich zwischen sich und der bösen Mutter SED gezogen hat. Eine solche Verpflichtung zählt mehr als Entschuldigungen seitens der Parteiführung, die um so billiger zu haben sind, als keiner der heutigen Oberen für die damaligen Verbrechen verantwortlich ist.

Sicher wird diese Präambel dazu beitragen, dass die Akzeptanz der PDS sich in der alten Bundesrepublik erhöht. Vor allem den jüngeren Wählern in Ost und West ist es schnurz, ob der SED-Staat ein halbes oder ein ganzes Unrechtsregime darstellte. Sie interessieren sich nicht für diesen ganzen DDR-Plunder – für Großversuche am lebenden Objekt wie das Ulbricht’sche „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“, an dem nach wie vor das Herz von Sahra Wagenknecht hängt. Sie wollen zum Beispiel wissen, wie gegen die negativen Folgen der Globalisierung Front zu machen ist.

So gesehen, stellt die Präambel einen Abschied dar. Für die PDS einen Anschied von einem sehr alten Hass, einer alten Fixierung auf die Sozialdemokraten als Erzfeind und Rivalen. Früher hieß es: „Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten!“ Jetzt ruft die PDS: „Allzeit bereit, Klaus Wowereit!“