Welch ein Fehlstart, Genossen!

Die Geschichte der Teilung ist noch einmal präsent, als das Abgeordnetenhaus den rot-roten Senat wählt. Schlechte Ergebnisse für Senatoren. Strieder fällt gar durch. CDUler will Wolf (PDS) bei Stimmbetrug beobachtet haben. Sarrazin-Wahl wiederholt

von ROBIN ALEXANDER
und STEFAN ALBERTI

Grimmig entschlossen stürmen Klaus Wowereit und Peter Strieder kurz vor eins die Treppe zum Plenarsaal des Abgeordnetenhauses hinunter. An diesem Tag sollen sechs Sozialdemokraten und drei PDSler als neuer Senat vereidigt werden. Aber steht die Mehrheit auch? Unten an der Treppe schüttelt Strieder Hände, lächelt, die Kameras laufen schließlich. „Na, auch wieder da?“, sagt der Senator und ein alter Gewerkschaftsler antwortet: „Bin immer da, wenn es schwierig wird.“

Schwierig sollte es an diesem Donnerstag wirklich werden: Eine Menge Unmut spüren Wowereit und Strieder in der eigenen Partei. Manche sind sauer wegen der Zusammenarbeit mit der PDS. Andere wegen der mangelhaften Berücksichtigung von Frauen oder Ostdeutschen in der Senatsriege. Die SPD ist in einer Stimmung, als hätte sie die gewonnene Wahl eigentlich verloren. Aber werden die Abgeordneten ihren Zorn tatsächlich in Neinstimmen gegen Wowereit oder seine Senatskandidaten Luft machen? Nur eine Stunde vor der Parlamentssitzung stimmen die Sozialdemokraten intern fraktionsöffentlich. Keiner bekennt, mit Nein stimmen zu wollen – zu diesem Zeitpunkt.

Eine satte Mehrheit von 13 Stimmen hat Rot-Rot. Da eilt die Nachricht durch die Parlamentsreihen, dass die SPD-Abgeordnete Heidemarie Fischer aus Wedding plötzlich ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Not-OP. Nur noch 12 Stimmen Mehrheit.

Aber noch wird nicht abgestimmt, sondern gestritten: über die deutsche Geschichte. Nicht Frank Steffel, sondern Christoph Stölzl, Exsenator, greift Rot-Rot an. Und die CDU hat gut daran getan, den Intellektuellen statt den forschen Fraktionschef aufzubieten. Pathos scheut Stölzl nicht: „Das Auge der Geschichte blickt auf Berlin. Heute sperrt die Sozialdemokratie den Kommunisten die Tür zur Macht wieder auf.“ Stölzl schlägt auf die PDS, die „Sand im Getriebe der Einheit“ sei, aber er will die SPD treffen. Und er trifft sie, wenn er fragt, was die SPD denn wirklich zu Rot-Rot treibe. Im Stölzl-Stil klingt das so: „Dieser Tag steht wie ein großes Fragezeichen über Berlin.“

Wer wird die SPD verteidigen? Wowereit? Sitzt schweigend auf der Senatsbank. Strieder? Feixt. Michael Müller, der Fraktionschef, geht zum Rednerpult, aber er spricht nur über Formalitäten. Den hochkarätigen Zuschauern auf der Tribüne – Altbundespräsident Walter Scheel ist anwesend – wird klar: Die SPD will die historische Dimension dieser Sitzung des Abgeordnetenhauses schlicht ignorieren. In diese Lücke stößt die PDS mit Macht. Harald Wolf, Fraktionschef, beantwortet die Frage nach dem „historischen Sinn“ des rot-roten Bündnisses: „Die Schlachtordnungen der Ideologien des letzten Jahrhunderts haben sich verändert und auch das bürgerliche Lager muss sich davon verabschieden.“ Gregor Gysi wird sogar offensiv: „Zur deutschen Geschichte gehört eben auch, dass SPD und KPD den Widerstand gegen die Nazis leisteten, wogegen die bürgerliche Mitte diesen Weg nur in Ausnahmefällen ging.“

Sibyll Klotz von den Grünen tut sich schwer, gegen eine Koalition zu argumentieren, der sie persönlich gerne angehört hätte. Dafür findet Günter Rexrodt kluge Worte zur PDS: „Es ist eigentlich nicht zu erwarten, dass sich diese Gesellschaft von einer PDS, die eine gescheiterte Ideologie vertritt, mehr beeinflussen lässt als eben diese Partei von der starken und offenen Gesellschaft.“

Dann endlich die Abstimmungen. Zuerst Wowereit. 74 Stimmen für ihn. Also zwei Dissidenten. Aber Wowereit küsst Gratulantinnen und lacht schon wieder, als er die Wahl zum Regierenden annimmt. Das Lachen wird ihm an diesen späten Nachmittag noch vergehen. Karin Schubert (SPD) wird mit 75 Stimmen zur Justizsenatorin gewählt. Aber dann: Nur 70 Stimmen für Gysi! Sechs SPDler haben also nicht für den neuen Wirtschaftssenator gestimmt. Wegen der angeblichen Stasi-Mitarbeit, die ihm auch im Parlament vorgeworfen wurde? Oder wollen einige SPD-Abgeordnete jedem PDS-Senator die Stimme verweigern?

Klaus Böger, SPD-Rechter und Bildungssenator, bekommt auch nur 70. Thilo Sarrazin gar nur 68 bei 66 Gegenstimmen. So viele SPD-Dissidenten? Oder rächen sich jetzt die PDSler für das miese Gysi-Ergebnis? Für Heidi Knake-Werner stimmen immerhin 74 Abgeordnete.

Dann der Skandal: Michael Borgis, Präsidumsmitglied von der CDU, behauptet, er habe beobachtet, wie Harald Wolf von der PDS bei der Wahl Sarrazins einen zweiten Stimmzettel in die Urne warf. Der so schwer beschuldigte PDS-Politiker streitet ab: „Absurd. Ich bin doch nicht bescheuert!“ Die Sitzung wird unterbrochen. Der Sarrazin-Wahlgang schließlich wiederholt. Unter dem Eindruck der schweren Vorwürfe schließt die neue Koalition die Reihen: 73 Abgeordnete stimmen jetzt für Sarrazin, 5 mehr als beim ersten Versuch. Das beste Ergebnis bekommt Erhardt Körting. 77 Abgeordnete wählen den alten zum neuen Innensenator, der damit mindestens eine Stimme von der Opposition erhielt.

Für Peter Strieder, SPD-Parteichef und Stadtentwicklungssenator, votieren hingegen noch nicht einmal die eigenen Leute. Nur 68 Stimmen für Strieder, aber 70 dagegen. Damit ist der Supersenator und Strippenzieher der Koalitionsverhandlungen im ersten Wahlgang durchgefallen. Mit unbewegten Gesicht nimmt Strieder das Ergebnis zur Kenntnis. Die SPD beantragt eine Sitzungsunterbrechung und zieht sich zur Fraktionssitzung zurück. Diese dauerte bei Redaktionschluss noch an.