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bernhard pötter über KinderDer verlorene Sohn

Sich selbst zu verlaufen ist dumm genug. Den Nachwuchs bei der Grünen Woche zu verlieren ist eine Katastrophe

„Jonas?“

Verdammt. Er ist weg. Eben war er doch noch da. Kurbelte am Lenkrad des Riesentraktors und spielte Treckerfahrer. Ich habe sogar zugesehen, wie er verschwand – habe mich nicht mal umgedreht, um die Kunststücke der Holzfäller mit Axt und Motorsäge zu verfolgen. Seelenruhig sah ich zu, wie mein Erstgeborener vom Trecker rutschte, sich unter den Stoßstangen der grünen Ungetüme von Landmaschinen in Halle 26 des Berliner Messegeländes hindurchduckte und im Getümmel der Grünen Woche abtauchte. Bis ich die Rübenernter, Muldenkipper und Langbaumhobler umrundet habe, ist er aus meinen Augen verschwunden.

„Jonas! He, Jonas, komm zurück!“

Da steht der verlassene Vater inmitten der brodelnden Grünen Hölle von Berlin, in der Hand die Winterjacke des Sohnes, hinter der Stirn aufsteigende Gereiztheit. Nicht genug damit, dass es heiß und stickig ist, dass ein paar Pommes drei Euro kosten und man Kinder in dem ganzen Trubel entweder auf den Schultern schleppen muss oder Gefahr läuft, sie unter die Hufe einer Stampede plastikbetüteter Junglandwirte kommen zu sehen. Jetzt ist er auch noch weg.

„JONAS!“

Wahrscheinlich ist er in der nächsten Halle. Da stehen ja noch größere Erntemaschinen. „Entschuldigung, haben Sie zufällig meinen Sohn gesehen? Drei Jahre, blond, blauer Pulli?“ Was hat er noch mal an? Die Jeans oder die gelbe Cordhose? Die Frau am Stand für Holzbriketts aus thüringischem Sägemehl schüttelt den Kopf. Meine Frage klingt so dämlich, wie ich mich fühle. Da! Kindergeheul!

„JONAS, JONAS, HIER BIN ICH!“

Ich renne um den Stand mit den Tulpenzwiebeln herum. Da steht ein schwarzhaariges Mädchen und plärrt. Hat wahrscheinlich seinen Vater verlorem. Ich schiebe sie dem nächsten Förster in die Arme: Da soll sich jetzt jemand anderes drum kümmern. Wo ist mein Knabe? Wieder zurück in die Halle mit den Treckern. Jonas spielt gern Verstecken. Aber normalerweise ruft er schon „Such mich!“, noch ehe er die Schranktür hinter sich zuzieht. Aber in dem Getöse aus Blasmusik und Kettensägensound hört man keine Hilferufe.

„JOOONAS, WO BIST DU?“

Okay, ich gebe zu, es liegt auch in den Genen. Sein Cousin ist der schlimmste Kaufhausverstecker von Köln. Regelmäßig rennt er zwischen den Kleiderständern davon, stellt sich zwischen die Jacken und bleibt mucksmäuschenstill stehen. Das Einzige, was hilft, ist, sich auf den Boden zu legen und nach seinen Füßen zu spähen. Und auch ich bin mal im Sommerbad in der Menge untergegangen. Plötzlich stand dieser riesenhafte braun gebrannte Bademeisterbauch vor mir, und ich musste unter lautem Geheule meinen Namen sagen. Der wurde dann per Megafon übers Wasser getrötet: „Der kleine Bernhard hat seinen Vater verloren …“ Diese Schande! Lieber Waise sein als noch mal diese Erfahrung, schwor ich mir damals. Dreißig Jahre später denkt mein Sohn offenbar ähnlich.

„JOOOONAAAAAS!“

Meine Hände sind nass. Mir wird heiß. Adrenalin pocht durch die Adern. Eine Urangst ist es, verloren zu gehen. Eine andere Angst, jemanden zu verlieren, für den man verantwortlich ist. Ich kenne Leute, die verlaufen sich mit dem Stadtplan in der Hand so gründlich, dass die Bergwacht nach ihnen suchen muss. Andere fahren konsequent mit der U-Bahn in die falsche Richtung. Oder lassen immer die Autoschlüssel irgendwo liegen. Aber nichts ist so schlimm, wie nach Hause zu kommen und der Frau sagen zu müssen: „Übrigens, ich hab heute unseren Sohn im Gewühl verloren. Aber reg dich nicht auf, wir haben ja noch eine Tochter.“

„PAPA, PAPA!“

Verheult, verrotzt und an der Hand eines wildfremden Mannes springt mir Jonas entgegen. Er war auf dem Weg zurück in die Halle, wo wir vorher die Kühe gesehen hatten. Kurz stelle ich mir vor, wie gründlich er verloren gegangen wäre, hätte er das geschafft. Meine Knie werden ganz kurz ganz weich. Dann klammert er sich an meinen Hals und ich mich an seinen. Ich danke seinem unbekannten Schutzengel, dann setze ich Jonas auf den Boden und schärfe ihm ein: „Wenn du noch mal verloren gehst, bleibst du, wo du bist, rufst nach mir und RÜHRST DICH NICHT VOM PLATZ!“ Verstanden? Verstanden? „Jajaja“, mault mein Sohn.

Auf einer Welle der Erleichterung surfen wir Richtung Biohalle. Mir geht das Gleichnis vom verlorenen Sohn durch den Kopf. Als der wiederkommt, lässt der Vater ein Mastkalb schlachten. Ein Biobauer mit grauem Vollbart tritt schützend vor seine Kälber, als wir vorbeikommen. Wahrscheinlich hat er mein Gesicht gesehen.

Fragen zu Kindern?kolumne@taz.de

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