: Wanderungen etc.
Unter dem Stichwort „Bevölkerungsbewegung“ erfasst das Statistische Bundesamt neben Eheschließungen, Scheidungen, Geburten und Todesfällen auch das Umzugsgeschehen in Deutschland. Gezählt werden einerseits die Zuzüge nach Deutschland aus dem Ausland und die Fortzüge ins Ausland: Jeweils Mitte der Sechzi-ger-, Siebziger- und Achtzigerjahre gab es einen leichten Überschuss an Fortzügen, seitdem durchgängig einen Überschuss an Zuzügen.
Andererseits werden die Umzüge innerhalb Deutschlands registriert: Rund eine Million Menschen ziehen pro Jahr in ein anderes Bundesland (wobei die Zahl derjenigen, die von den neuen Ländern ins alte Bundesgebiet ziehen, wieder leicht ansteigt). Rund drei Millionen ziehen innerhalb ihres Bundeslandes um. (Übrigens ziehen innerhalb Bayerns vergleichsweise mehr Menschen um als innerhalb Nordrhein-Westfalens, nämlich 510.000 bei 12 Millionen Einwohnern gegenüber 570.000 bei 17 Millionen Einwohnern.) Zählt man auch Umzüge innerhalb eines Hauses, einer Straße, eines Bezirks – also jegliche Art des Wohnungswechsels – hinzu, errechnet sich eine gesamtdeutsche „räumliche Mobiliät“ von zwölf Prozent der Bevölkerung.
Der Fachterminus für das Umziehen, dessen sich auch das Statistische Bundesamt bedient, lautet „Wanderungen“ (Wanderungsbewegung, Wanderungssaldos, Abwanderungen et cetera) – ein in diesem Zusammenhang erstaunlich altehrwürdiges Wort. Es leitet sich ab von „wenden“ und „winden“ und bedeutete „hin und her gehen, irgendwohin gehen, seinen Standort verändern“. Die ursprünglich positive Konnotation des Wortes „wandern“ dokumentiert sich in populären Volksliedern wie „Das Wandern ist des Müllers Lust“ oder „Der frohe Wandersmann“. Das heute gebräuchliche Wort „umziehen“ hingegen, das sich erst im 19. Jahrhundert zur Bezeichnung eines Wohnungswechsel durchgesetzt hat, bedeutete ursprünglich „herumziehen, umzingeln, überfallen, belästigen“.
Umzüge gelten als gesundheitliche Risikofaktoren. Auf der Skala belastender Lebensereignisse werden dem Wohnungswechsel zwanzig Punkte zugeordnet (Tod des Lebenspartners = hundert Punkte). Er gilt als Auslöser von depressiven Verstimmungen, Essstörungen, Stress und damit Magengeschwüren, Bluthochdruck, Herzinfarkt. Alzheimerpatienten wird dringend geraten, von einem Wohnungswechsel abzusehen, weil er die Krankheitssymptome häufig verschlimmert.
Wer umzieht, braucht Hilfe. Rat und Tat versprechen Bücher wie „Der Umzugsplaner. Praktischer Rat zu allen Fragen“ (Falken Verlag), „Geld Checkliste. Der perfekte Umzug. Kosten sparen – Steuervorteile nutzen“ (Walhalla Verlag) oder „Geld sparen beim Umzug“ (Deutscher Mieterbund). Und der Deutschen Taschenbuchverlag versucht sogar, mit dem Bändchen „Umziehen, umräumen, umbauen“ das immerfort währende Herumbosseln in jeglicher Umgebung als höhere Kulturleistung zu adeln – ein nur mäßig erfolgreiches Unterfangen.
Auch eine Fülle von Kinderbüchern nimmt sich des Themas in rührender Fürsorglichkeit an, etwa „Teddy Tom zieht um“, „Wir ziehen um“, „Lea zieht um“, „David zieht um“, „Marie zieht um“, „Max, der Neue“ oder „Jakob will nicht umziehen“. „Tom braucht neue Freunde. Ein Ellermann-„Mutmach-Buch“ spricht aus, woher der Wind weht: Umzüge sind schlimm, aber man kann sie überleben, ja.
VERENA KERN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen