: „Finger in der Wunde sein“
Die Arbeiterbewegung entdeckt ihre Wurzeln und sich selbst wieder: Auf einer internationalen Konferenz gegen Deregulierung in Berlin begründen Gewerkschafter und Arbeitnehmervertreter aus 51 Ländern ein Netzwerk gegen die Privatisierungswelle
aus Berlin BEATE WILLMS
Das Ergebnis fasste Senan Flan Zran in einem Satz zusammen: „Für mich hat jetzt jedes Land ein Gesicht“, sagte der Delegierte der Energiearbeitergewerkschaft Synaseg von der Elfenbeinküste. „Ich will wissen, wie es dort weitergeht und ob wir davon lernen können.“ Neben Zran waren mehr als 400 Gewerkschafter und Vertreter von Arbeitnehmerorganisationen aus 51 Ländern am Wochenende in Berlin zu einer internationalen Konferenz gekommen, um über die Folgen der Deregulierung für Arbeitnehmerrechte zu diskutieren und die Grundlage für ein offenes Netzwerk zu schaffen.
„Wir begreifen uns nicht als Konkurrenz zu bestehenden Organisationen“, sagte Manfred Birkhahn, der im ständigen Ausschuss den Informationsaustausch gewährleisten und zum 1. Mai als direkten Ausfluss der Konferenz ein „Schwarzbuch der Deregulierung“ erstellen soll. „Aber wir wollen der Finger in der Wunde sein.“ Viele Verbände hätten „vergessen, wozu sie da seien – nämlich die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten“, unabhängig von der politischen Linie und einzelnen Parteien.
Die Beiträge zeigten, dass die wirtschaftlichen Prozesse weltweit vergleichbar sind: Überall wird privatisiert und liberalisiert, auch wenn sich Reihenfolge und Geschwindigkeit, je nach Widerstand der entsprechenden Gewerkschaften, unterscheiden.
So berichtete Rod Ferreira von der brasilianischen Eisenbahnergewerkschaft, dass der Verkauf der Bahn ein Drittel des Schienennetzes lahm gelegt und 70 Prozent der Beschäftigten ihre Jobs gekostet habe. Eisenbahner müssten nun bis zu 16 Stunden arbeiten. Folge: durchschnittlich zwei Zugunglücke pro Tag. Weil andere Delegierte Ähnliches berichteten, will eine Gruppe für den Herbst einen weltweiten Aktionstag der Eisenbahner vorbereiten.
Indien, wo die zentralen Gewerkschaftsbünde von den jeweiligen politischen Parteien kontrolliert werden, sei „vermutlich das einzige Land, das ein eigenes Privatisierungsministerium“ unterhalte, sagte Nambiath Vasudeva, Generalsekretär der unabhängigen Union of Blue Star Worker. Nachdem Teile des Öffentlichen Dienstes verkauft worden seien, gebe es dreimal so viel Arbeitslose wie vorher. Zugleich habe sich eine Parallelwirtschaft ohne jeden sozialen Schutz entwickelt.
Gaston Azuna, Generalsekretär der unabhängigen Gewerkschaften in Benin, fasste zusammen: „Je mehr Arbeitslose es gibt, desto leichter fällt es Politik und Unternehmern, Arbeitsrechte abzusenken.“
Gewerkschaften spielen in diesem Prozess unterschiedliche Rollen. Auf der einen Seite drohen Aktivisten, die zu Demonstrationen und Streiks aufrufen, in vielen Ländern Anklage, Haft und manchmal Tod. Für einige Studenten aus dem Togo wurde sogar die geplante Teilnahme an der Berliner Konferenz zu einer Gefahr: Sie wurden vorher entführt. Nur einer kam frei und berichtete über den Anschlag.
Auf der anderen Seite warfen Delegierte wie Baldemar Velasquez vom Organisationskomitee der US-Farmarbeiter in South Carolina den etablierten Gewerkschaften vor, sich „in die weltweite Bewegung der Globalisierung einspannen“ zu lassen. In vielen Ländern hatten sich schon vor der Berliner Konferenz unabhängige Gruppen zusammengetan. „Viele Gewerkschaften haben längst Resolutionen für einen Generalstreik beschlossen“, sagte Lorenzo Veraldo vom italienischen Komitee. Aber die Chefs der maßgeblichen Organisationen unterstützten Berlusconis Weißbuch zur Abschaffung der Tarifverträge. Auch aus den deutschen Reihen kam Kritik. Im Bündnis für Arbeit ließen sich Gewerkschafter zu Mitverantwortlichen beim Abbau des Sozialsystems machen, so Birkhahn. „Bei der Zustimmung zur Rentenreform waren sie Gefangene ihrer engen Verbindung zur SPD.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen