: Verbotskultur
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
Die Enquête-Kommission des Bundestages „Recht und Ethik in der modernen Medizin“ hat sich gegen die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) ausgesprochen. Dies teilte der Vizevorsitzende der Kommission, Hubert Hüppe (CDU), mit. Nach seinen Angaben lehnten 16 von 19 anwesenden Mitgliedern des Gremiums eine Zulassung der PID ab. Behindertenverbände begrüßten die Entscheidung … Hüppe nannte das Votum ein Signal für das Lebensrecht menschlicher Embryonen. Damit werde eine klare Position gegen die Diskriminierung von Behinderten und die Instrumentalisierung von Frauen bezogen. Die Minderheit von drei Kommissionsmitgliedern hatte dafür plädiert, Paaren mit hohem Risiko für bestimmte Erbkrankheiten die PID zu erlauben. Die Enquête-Kommission sprach sich laut Hüppe zugleich für eine Einschränkung der „ausgeuferten“ Praxis der vorgeburtlichen Untersuchungen und der Spätabtreibungen aus.
Frankfurter Rundschau
vom 27. Februar 2002
Die „Verbotskultur“ fehlt noch in Eckhard Henscheids Inventar „Alle 756 Kulturen“ (Zweitausendeins); auf „Verantwortungskultur“ folgt „Vergnügungskultur“. Ich habe aber vor, hier den Locus classicus zu liefern.
Einen besonders leichten und schönen Zugang verschafft der Hund. Er ist anzuleinen, kommandiert das Schild an den drei Eingängen zu Riehmers Hofgarten, einer hochherrschaftlichen Wohnanlage in Kreuzberg. Warum, ist schwer einzusehen; denn es handelt sich im Wesentlichen um einen schön gepflasterten Innenhof, den kleine, knöchelhoch eingezäunte Rasenstücke unterbrechen. Keine Blumenrabatten, in denen der Hund, nach Mäusen grabend, Unheil anrichten könnte; den Kinderspielplatz, der in solchen Fällen gern für die Begründung von Ge- und Verboten angeführt wird, umschließt ein eigener Zaun. Kein Schild fordert vom Hundehalter, womöglich anfallenden Kot selber zu beseitigen; auch ist das Betreten der Rasenstücke keineswegs untersagt.
Aber Hunde sind an der Leine zu führen. Unterlässt man es, fängt man sich leicht von einem bestimmten Typus älterer Dame, der hier wohnt, eine Abmahnung ein. Zu einem richtigen Herzensanliegen aber hat sich den Leinenzwang der Haustechniker gemacht, ein älterer Kleinbürger von erheblichem Körperumfang. „Sie können wohl nicht lesen!“, brüllt er gern aus sicherer Entfernung (und von hinten), und wenn man, unter Hinweis auf die fehlenden Blumenrabatten und den extra eingezäunten Spielplatz, „Warum?“ fragt, schnauzt er mit Gusto: „Weil das Privateigentum ist.“
Dies ist ein schönes Beispiel für Autoritarismus. Es ist verboten, weil ich es verboten habe. Doch beschränkt sich diese Form unbegründbaren, gleichsam freien Verbietens keineswegs auf diktatorische Regime. Konservative Kritiker demokratischer Verfahren verdächtigen in dieser Hinsicht das Mehrheitsprinzip: Es gilt, was die Mehrheit beschlossen hat, weil sie es beschlossen hat. In diesem Sinn ließ sich ja auch die Enquête-Kommission zur PID vernehmen.
Doch knüpfte sie an das Verbot weitergehende Erwartungen, und das gilt gewiss auch für den Besitzer von Riehmers Hofgarten und seine Repräsentanten, die verbitterten Damen und den fetten Haustechniker. Im Innenhof von Riehmers Hofgarten lernt der Hundefreund, was er eigentlich auch draußen beherzigen sollte: den Hund an der Leine zu führen. Dahinter steckt, vermute ich, eine umfangreiche Philosophie betreffs Hunde und Menschen, Hunde und Menschen in der großen Stadt.
So wie hinter der PID-Entscheidung eine ganze Philosophie steckt: Wenn sie dürfte, wie sie wollte, würde die Gesellschaft ihre Behinderten sofort beseitigen. So wie sie – ein anderes schönes Exempel für die Verbotskultur – sofort komplett rauschgiftsüchtig würde, wäre der Vertrieb der entsprechenden Stoffe freigegeben. Ein einigermaßen geregeltes gesellschaftliches Leben erhält einzig die Verbotskultur aufrecht, auf deren differenzierte Ausgestaltung die verschiedenen Fraktionen viel Aufmerksamkeit verwenden, mit diversen Maßnahmen, vor allem aber Vorschlägen, welche Maßnahmen jetzt sofort ergriffen werden müssten. Meine besondere Aufmerksamkeit gilt auch seit längerem Prof. Dr. W. Glogauer, der einen direkten Zusammenhang zwischen gewalttätiger Jugend und Gewaltdarstellung in Film und TV erkannt haben will. Verbietet man solche Gewaltdarstellungen, wird die Jugend lammfromm. Wir betreten hier das weite Feld der Zensur; welche zivilisatorischen Hoffnungen sich daran knüpfen – ein geradezu klassisches Exempel der Verbotskultur.
Probleme stecken aber nicht nur in der Philosophie, die die Verbotskultur jeweils hinterfängt und notfalls begründet – Hunde gefährden das großstädtische Leben ebenso wie frei verkäufliche Rauschmittel –, für völlig ungelöst halte ich das zentrale lerntheoretische Axiom der Verbotskultur. Findet ein Transfer statt? Wird das für Fall A erlassene Verbot selbstverständlich auf Fall B übertragen, oder müsste für Fall B (und C, D usw.) ein eigenes Verbot ergehen?
Im Fall von Riehmers Hofgarten besteht kein Zweifel: Der Transfereffekt ist gleich null. Wer seinen Hund frei laufen lässt, wird ihn auch hier nicht anleinen. Außerdem kann man jederzeit drum herumgehen. Was das Rauschgift angeht, so finden sich hier innerhalb der Verbotskultur die unterschiedlichsten Optionen. Während die einen schon Zigaretten untersagen möchten, ist es bei den anderen erst der Joint, und richtig verbieten möchten Dritte erst Heroin usw.
Besonders heikel wird das lerntheoretische Problem natürlich angesichts des PID-Verbots. Es setzt voraus, dass jedes Kind, das mit Glasknochenkrankheit oder Mukoviszidose oder was weiß ich nach künstlicher Befruchtung geboren wird, als moralisches Exempel funktioniert. Jedes behindert geborene Baby fördert bei seinen Eltern und Verwandten, bei den Nachbarn und in der Schule und in der Gesellschaft insgesamt die Anerkennung von behinderten Menschen als vollwertig oder wie man das nennen soll. Am Ende wird die Gesellschaft die Glasknochenkrankheit und die Mukoviszidose und das Downsyndrom wie eine besondere, wenn auch schwierige Begabung nicht nur akzeptieren, sondern geradezu begrüßen.
Ich bezweifle, dass dieser Transfer gelingt. Das PID-Verbot nötigt Eltern, einen als beschädigt diagnostizierten Embryo, falls sie es wollen, regelrecht abzutreiben; weder Diagnose noch Abtreibung sind ja verboten. Besonders schwierig, so gut wie unmöglich denke ich mir, dass die Eltern, wenn die Mutter das Kind austrägt, dann eben gar nicht mit ihrem Kind befasst ist, sondern mit einem moralischen Exempel, an dem die Gesellschaft die Anerkennung von Behinderten lernen soll. Wie das zu den Entwicklungsschmerzen des Kindes beiträgt, möchte ich mir nicht ausdenken. Manche Fragen sind tatsächlich nicht durch Mehrheitsentscheidung zu beantworten.
So viel für heute zur Verbotskultur. Und versuchen Sie jetzt bitte nicht, mir ex post den strukturellen Vergleich von Leinenzwang und PID-Verbot zu verbieten.
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