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Die verlorenen Söhne

Wie werden die Terroranschläge vom 11. September in der arabischen Welt rezipiert? Nahost-Experten aus verschiedenen Disziplinen diskutierten bei einer Tagung auf Schloss Elmau und sammelten Therapievorschläge für den arabischen Patienten

Auch Islamisten fühlen sich angezogen vom „American way of life“

von DANIEL BAX

Der Anschlag vom 11. September kam nicht aus dem Nichts. Für manche reduziert sich die Verantwortung für das Attentat auf Bin Laden und sein Netzwerk: Eine so radikale wie marginale Splittergruppe, die sich so wohl nur im afghanischen Niemandsland entfalten und organisieren konnte, und damit ist der Fall erledigt. Andere sehen al-Qaida in einem größeren Zusammenhang, eng verknüpft mit dem Aufstieg und möglichen Niedergang islamistischer Bewegungen in der Region oder gar mit dem Islam insgesamt. Islamwissenschaftler und andere Nahost-Kenner fanden sich folglich nach dem 11. September schlagartig im Rampenlicht des öffentlichen Interesses wieder, wenn auch oft als Terrorismusexperten missverstanden.

Auf einer Tagung im Schloss Elmau, zwischen verschneitem Bergpanorama und Wintersport treibenden Familien, gab es für einige dieser in den letzen Monaten schwer gefragten Gesprächspartner in Sachen Orient Gelegenheit, Bilanz ihrer Betrachtungen zu ziehen. Allerdings, gab Gudrun Krämer, Professorin für Islamwissenschaft an der FU Berlin, zu, habe auch ihre Zunft auf der Suche nach Erklärungen zunächst im afghanischen Nebel gestochert. Es sei für sie noch immer „sehr schwierig, eine präzise Antwort darauf zu geben, was die Bedeutung von al-Qaida für die islamische Welt angeht“. Zwar habe es dort in breiten Kreisen „klammheimliche Freude“ über den Schlag gegen die Symbole „westlicher Arroganz“ gegeben und Verständnis für Bin Ladens Hass auf Amerika sei bis weit hinein in säkulare Schichten anzutreffen.

Andererseits herrsche auch weithin Einigkeit über die Ablehnung seiner Mittel, was sich noch im Entsetzen der Eltern der Attentäter gespiegelt habe, die ihren verlorenen Söhnen eine so monströse Tat schlicht nicht zutrauen wollten. In solchen Abwehrreaktionen zeige sich, so Gudrun Krämer, allerdings auch der Unwille, sich mit der eigenen Verantwortung auseinander zu setzen – eine Vermeidungsstrategie, die in der arabischen Welt häufig in abstrusen Verschwörungstheorien gipfelt: Der Mossad war’s. Damit werde gleichsam der eigene Minderwertigkeitskomplex fortgeschrieben.

Der Historiker Emmanuel Sivan aus Jerusalem, einstmals Berater von Mosche Dajan, Schimon Peres und Jitzhak Rabin und ausgewiesener Kenner des radikalen Islam, übertrug Krämers Diagnose der ambivalenten Bewunderung für Bin Laden auf das Verhältnis des arabischen Bürgertums zum radikalen Islam überhaupt: Obwohl große Teile der arabischen Mittelschichten zunächst mit den Zielen der Islamisten in ihren Ländern kokettiert hätten, habe sie deren Militanz in Ägypten und Algerien abgeschreckt und wieder an die Seite ihrer autoritären Regimes getrieben. Solange diese ihren Bürgern einen bescheidenen Wohlstand und Brot garantierten, könnten sie mit politischer Öffnung und Partizipation auf sich warten lassen. Die Sympathie arabischer Kleinbürger für den Terrorismus eines Bin Laden sei daher „so breit wie schal“, so Sivan.

Zwar sei man sich in der Ablehnung der US-Außenpolitik weithin einig. Zugleich aber wirke die Anziehungskraft des American way of life bis weit in islamistische Zirkel hinein. Dazu erzählte Sivan die Anekdote von seinem zufälligen Zusammentreffen mit jungen Islamisten, erkennbar an ihren sorgsam gestutzten Bärten, auf den Straßen von Alexandria: Nach längerer Debatte über Allah und die Welt hätten sie sich bei ihm nach der Möglichkeit erkundigt, ein Visum für die USA oder, besser noch, für Australien zu bekommen.

So schizophren stellt sich die arabische Hassliebe zum Westen im Alltag dar. Was aber unterscheidet Bin Ladens Ideologie des Terrors von bisher bekannten Formen des radikalisierten Islam? Schließlich weist das Weltbild von al-Qaida in vielen Punkten Parallelen auf zu dem anderer militanter Gruppen, etwa was die Fixierung auf Israel und das Feindbild Westen betrifft, den religiösen Reinheitswahn und die Glorifizierung der Kämpfer und „Märtyrer“ für die vermeintlich gerechte Sache. So gesehen ist al-Qaida nur ein besonders extremer Ausdruck einer allgemeinen islamistischen Pathologie.

Doch den bekannten islamistischen Bewegungen geht es üblicherweise um die Erringung staatlicher Macht: Ihr Hauptgegner ist das jeweilige Landesregime, das sie absichtsvoll zur Herrschaft der Ungläubigen stempeln. Bin Laden dagegen hat die Kampfzone verlagert, das Feindbild externalisiert. Dabei dient ihm die Rhetorik von der Okkupation „islamischen Bodens“ dazu, die Strategie einer Art globalen Partisanenkampfs zu rechtfertigen und den Krieg in die Metropolen des Westens zu tragen. Wenn er sich dabei des schillernden Begriffs Dschihad bedient, zeigt sich, wie weit er sich von einer islamischen Tradition entfernt hat, in deren Logik er gleichwohl argumentiert. Schließlich darf, zumindest der juristischen Überlieferung nach, der Dschihad nur von einem islamischen Staatsoberhaupt, nicht aber von jedem dahergelaufenen Laienprediger ausgerufen werden.

Die meisten islamistischen Gruppen sehen das bekanntlich etwas lockerer. Doch für Bin Laden steht der ständige Dschihad im Zentrum des Denkens: Als Selbstzweck, der Gruppenidentität stiftet, rangiert er noch vor den wichtigsten religiösen Prinzipien wie der Pilgerfahrt und dem Gebet: Es ist der totale Dschihad. Für solchen Heroismus der Tat brachen junge Aussteiger, die es nach Afghanistan in den Krieg zog, auch mit ihren Familien, obschon die Entscheidung zum Kampf die Einwilligung der Eltern verlangt. Dies berichtete Reinhard Schulze, der in einer Studie die Biografien junger „Dschihadis“ untersucht hat.

Im Nahen Osten blüht der Extremismus vor dem Hintergrund einer Bevölkerungsexplosion und eines Kollapses der Städte sowie des Versagens eines Bildungssystems, das ganze Generationen junger Männer mit unbrauchbarer Halbbildung in die Arbeitslosigkeit entlässt. Wenn daraus das Gefühl der eigenen Impotenz entstehe, so sei dies einer der Gründe, aus denen sich die Militanz speise, sagte Emmanuel Sivan.

Doch das eigentliche Rekrutierungsfeld für eine obskure Dschihad-Sekte wie al-Qaida liege in Europa, glaubt er: Hier gebe es genug Entfremdung, Hass und frustrierte junge Männer wie jene Algerier, die vor Jahren einen Anschlag auf den französischen Hochgeschwindigkeitszug TGV geplant hätten. Auch wenn al-Qaida seine 15 Minuten Weltruhm bereits hinter sich habe, so Sivan: Die Gefahr, dass sich Wiederholungstäter von dem Beispiel ermuntert fühlen, bleibe bestehen.

Das ist die düstere Seite jener Ausdifferenzierung islamischer Weltsichten, die der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Dale Eickelman beschrieb. Der Trend zur ganz individuellen Religionsauslegung, den er nachzeichnete, zeitigt aber auch friedlichere Ergebnisse: So fühlen sich immer mehr Autodidakten in der arabischen Welt heute Muslim genug, sich den Koran nach eigenem Gusto zurechtzulegen, womit sie das Deutungsmonopol althergebrachter Autoritäten in Frage stellen, und nicht jeder ist ein Demagoge.

Als Beispiel führte Eickelman Muhammad Shahrur an, einen Ingenieur ohne jede theologische Vorbildung, der sich seit 1990 in nunmehr vier Büchern an einer zeitgemäßen Interpretation des Korans versucht und damit großen Anklang in der arabischen Welt gefunden habe: In Damaskus und Beirut sind die Bücher des Libanesen zu Bestsellern avanciert, und mittels Raubkopien haben sie auch in Ägypten und sogar im abgeschotteten Saudi-Arabien Verbreitung gefunden. Dass der Autodidakt in seinen Schriften mal eben die gesamte juristische Auslegung der vergangenen Jahrhunderte für obsolet erklärt, hat nicht verhindert, dass er sich mit Gelehrten der theologischen Al-Azhar-Universität aus Kairo zum Streitgespräch traf, das im Satellitenfernsehen übertragen wurde. Im Gegenteil: Es spricht für den Erfolg solch populärtheologischer Literatur, dass sie als Konkurrenz ernst genommen wird.

Satelliten-TV und Internet sind die neuen Medien, die zu einer Ausdifferenzierung auch des religiösen Diskurses beitragen und neue Öffentlichkeiten schaffen. Das mache die „arabische Straße“ zu einem Faktor der Politik, der sich zunehmend unabhängig von staatlicher Steuerung und Manipulation zeige, so Eickelman weiter.

Für den Westen sei es daher erforderlich, sich nicht mehr allein an die arabischen Führungen zu richten, um sich Unterstützung zu sichern. Als Vorbild führte er dabei Tony Blair an, der, auf die Kraft des besseren Arguments vertrauend, sich als erster westlicher Staatsführer schon früh vor die Kameras von al-Dschasira wagte, um Stellung zu beziehen gegen eine Videoerklärung Bin Ladens. Weniger überzeugend seien dagegen die USA gewesen. Wenn sie nach Zensur und mutwilliger Bombardierung des Al-Dschasira-Büros in Kabul riefen, so kündete dies von wenig Glauben an die eigenen Prinzipien der Meinungsfreiheit und der Debatte.

Sein Kollege Thomas Scheffler, derzeit Research Fellow am Institute for International Peace Studies in Notre Dame in den USA, rundete seine Analyse mit praktischen Empfehlungen ab, wo zum Abbau des westlichen Feindbilds in der arabischen Welt angesetzt werden könnte. Sein Fünfpunkteprogramm setzte allerdings nicht weniger als eine weitere Demokratisierung der arabischen Welt, eine Hebung des Bildungsniveaus, eine funktionsfähige UNO sowie eine moralisch glaubwürdige Politik des Westens voraus: ein sehr umfassender Therapievorschlag für den arabischen Patienten. Aber er zeigte immerhin, dass sich die Zunft der Orientalisten im Angesicht des Fanatismus mit ihrem Arabisch nicht am Ende fühlt.

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