: Girl‘s Talk
Eine grundstürzende Frauenfreundschaft: In dem Briefwechsel mit Lou Andreas-Salomé bekommt man Anna Freud in ihren Anfängen zu sehen – als junge Frau, die den Weg als Hausfrau meidet und für sich den Beruf der Kinderanalytikerin erfindet
von MICHAEL RUTSCHKY
Es war im Februar 1975. Eine alte und sehr kleine Dame – als sie jung war, maß sie 1,60 Meter – in seltsamer, weil eigenhändig hergestellter Bekleidung gab uns der Reihe nach die Hand und äußerte auf Deutsch Begrüßungsworte: Anna Freud. Der Berliner Psychoanalytiker Gerhard Maetze hatte für seine akademischen Schüler – er besetzte eine Honorarprofessur bei den Soziologen – eine Exkursion in das berühmte Londoner Institut organisiert; der Händedruck und der dunkle Blick der alten Dame wirkten fast magisch: Wir waren berechtigt, die Schriften ihres Vaters uns anzueignen, dessen Werk und dessen Ruhm sie seit den späten Zwanzigern entschlossen und erfolgreich verwaltete. Einer aus der Schülerschar, Michael Schröter, trat später direkt in ihren Dienst, als Übersetzer ihrer englischen Arbeiten, für die gesammelten Schriften (Kindler 1980).
Anna Freud erfand Techniken, wie man mit Kindern Psychoanalyse betreiben kann; jenes Londoner Institut, „The Hampstead Child-Therapy Course and Clinic“, praktizierte und lehrte ebendies (in scharfer Abgrenzung zur Kinderanalyse Melanie Kleins, ein Konflikt, der vor allem die englische Psychoanalyse lange heftig beschäftigte).
Mit Sigmund Freuds Emigration 1938 begann die Familie eine britische zu werden; Annas Cousin Lucian Freud ist ein berühmter englischer Maler; Lucian Freuds Tochter Esther veröffentlichte eine Reihe von Romanen, den letzten, „Wildland“ (Ullstein 2001), kann ich wieder sehr empfehlen; während die Verfilmung von „Hideous Kinky“ (1992) als „Marrakesch“ (mit Kate Winslet) wohl nicht so gelungen ist.
Intensiv die Psychoanalyse zu lesen, damit überstand man die schrecklichen Siebzigerjahre sehr viel besser als mit Marx-Lektüre (deren magischer Modus, im Gegenteil, erheblich zu den Schrecken der Siebziger beitrug; wenn man nur richtig las, befand man sich mitten im Befreiungskampf des Proletariats).
Was die Freud- mit der Marx-Lektüre aber verband, war der Grundgedanke der verschütteten Tradition, die wieder ausgegraben werden müsse. Dass wir sogar das persönliche Wohlwollen von Freuds Tochter und Erbin Anna erlangten, rechtfertigte das Unternehmen schon gar.
In dem schön und sorgfältig edierten Briefwechsel mit Lou Andreas-Salomé (1861–1937) bekommt man Anna Freud (1895–1982) in ihren Anfängen zu sehen, als junge Frau, die blindlings, aber entschlossen den Weg ihrer Schwestern, Hausfrau und Mutter, vermeidet und einen Beruf ergreift; zunächst Lehrerin, dann der frisch erfundene Beruf des Analytikers. Es ist ihr Vater – damals herrschten, professionell gesehen, noch äußerst laxe Sitten –, mit dem sie so etwas wie eine Lehranalyse betreibt, über Jahre immer wieder. Es ist aber, wie der Briefwechsel lehrt, Lou Andreas-Salomé, mit der sie eine dieser grundstürzenden Freundschaften pflegt, die, wegen des extrem hohen Kommunikationsanteils, quasianalytische Bildungsprozesse erleichtern.
Die Lektüre des Briefwechsels veränderte mein Bild von Lou Andreas-Salomé. Ursprünglich hielt ich sie für eine Art Groupie, einen weiblichen Don Juan, die Männer bloß anheizt (im Englischen gibt es dafür den drastischen Ausdruck prick teaser). Sie machte mit Rainer Maria Rilke rum und mit Nietzsche – das berühmte Foto, auf dem Paul Rée und Nietzsche (mit blöde verklärtem Blick) den Karren ziehen, in dem sie über die beiden Männer die Peitsche schwingt, schien mir alles über Lou Andreas-Salomé zu sagen. Ihre seltsame, vermutlich nie vollzogene Ehe mit dem Philologieprofessor F. C. Andreas machte sie auch nicht sympathischer, und der Briefwechsel mit Freud (S. Fischer 1966) und ihr Buch über die Beziehung – „Mein Dank an Freud“ (1931) – verraten (wie ich damals streng meinte) die hysterische Verschwärmtheit der notorischen alten Betschwester.
Im Lichte des Briefwechsels mit Anna Freud stellen sich jetzt die Dinge anders dar. Zwar herrschen hier aufseiten Lous (so wurde sie auch von Freud angeredet) gleichfalls das Schwärmerische und Verschwatzte (das ihre Belletristik ganz ungenießbar macht), doch bilden sie zugleich das Fluidum oder den Äther für einen Gefühlsstrom, der Anna, ängstlich und unentschlossen vor dem Leben stehend, wirklich wärmt und ermutigt, sich selbstständig weiterzubewegen.
So lernt man aus dem Briefwechsel, wie heftig Anna Freud von Tagträumen geplagt wurde – denen sie ihren Aufnahmevortrag für die Wiener Psychoanalytische Vereinigung widmete, „Schlagephantasie und Tagtraum“ (1922), ein immer noch sehr lesenswerter Text (im Band 1 der gesammelten Schriften), der gründlich darüber aufklärt, wie Sentimentalität und Grausamkeit zusammenhängen (mehr wird nicht verraten).
Tagträume, lehrt die Psychoanalyse, sind der Stoff, aus dem Belletristik gemacht werden kann – und tatsächlich findet man Anna Freud am Anfang der Freundschaft mit Lou immer wieder mit Romanplänen beschäftigt. Heinrich Mühsam heißt der Held (ein Name, den ich mir merke); später kommt ein Briefwechsel zwischen Franz und Egon hinzu.
Hier nun wirken sich die Ermunterungen und Ratschläge von Lou Andreas-Salomé, der erfahrenen Autorin, durchaus segensreich aus. Sie verhelfen Anna Freud zwar nicht zur Produktion jener Romane, aber sie demonstrieren ihr erfolgreich, wie man mit solchen Opus-Fantasien verfährt, die jetzt nicht mehr einfach schöne und/oder grausame Geschichten innerhalb der Seele abspulen, sondern darum kreisen, wie man sie aufschreibt (und dabei gründlich verändert). Dass Lou eine ältere Frau ist, muss dabei hilfreich gewesen sein; über Annas Mutter, Martha Freud (derselbe Jahrgang wie Lou), erfahren wir in dem Briefwechsel gar nichts. Sie kann für die junge Frau, die eine Berufskarriere in dem von ihrem Vater eröffneten Feld einschlägt, keine bedeutende Rolle spielen; Martha Freud managt als Hausfrau und Mutter einen großen Haushalt.
Anders als Lou, die immer mal wieder ihren belletristischen Strebungen nachgeht – während sie unorthodox ihre Praxis als Analytikerin betreibt, gern auch mehrstündige Sitzungen, zuweilen im Garten –, im Unterschied dazu gibt Anna Freud die Literatur auf. Dafür entsteht die Kinderanalyse, die sie 1927 in einem kleinen Büchlein vorstellt, was wiederum zu einer kleinen Liebeskrise mit Lou führt: Anna scheint zu meinen, Lou verüble ihr den Literaturverzicht und missbillige die Kinderanalyse – wofür aufseiten der anhaltend enthusiastischen Frau Andreas-Salomé für meine Begriffe aber nichts spricht.
Rührend, weil wir beim Schreiben sind, die letzten Briefe zu lesen. Lou konnte, aufgrund von Diabetes erblindet, nur noch krakeln und entschuldigt sich immer wieder dafür. Bis zum Schluss bleibt sie aber unverbittert, ja, man kann den Eindruck gewinnen, das Versinken in der Dunkelheit steigere ihre Gefühlsmöglichkeiten sogar.
Der Verzicht auf Heirat und Mutterschaft bringt Anna Freud also beruflich eine ganze Schar von Kindern ein. Auch träumte man damals von einer psychoanalytischen Pädagogik, und gemeinsam mit ihrer Lebensfreundin Dorothy Burlingham, die 1928 auftritt, gründet sie eine Experimentierschule. Auch Dorothy Burlingham bekam ich bei dem Besuch im Februar 1975 zu sehen, überhaupt den ganzen Kreis zarter und alter und kleiner Damen, die englisch meist mit schwerem österreichischem Akzent sprachen. Dabei bestimmte die 80-jährige Anna Freud souverän die Fallbesprechungen und theoretischen Diskussionen, bei denen wir zuhören durften.
Man erblickte, als Antiquität, ein Frauen-Soziotop, das in den Zwanzigern und Dreißigern die Gelegenheit ergriffen hatte, für sich einen eigenen Beruf zu erfinden. Das Kriegskinderheim, das Anna Freud und ihre Freundinnen in London betrieben, ermöglichte viele segensreiche Forschungen; weil sie den Sponsoren jedes Jahr Bericht erstatteten, kann man das alles genau nachlesen.
Was von der Hausfrauenrolle übrig blieb, verdichtete sich bei Anna Freud zu einer großen Leidenschaft für Handarbeiten. Angelegentlich berichtet sie eines Tages Lou, dass sie jetzt das Weben lerne; für ihre Strickwaren gab es in England ein eigenes Etikett, „Handmade by Anna Freud“. Immer wieder kommen in dem Briefwechsel genaue Angaben (inklusive Zeichnungen) über Kleider vor, die Anna für Lou häkelt und näht, was das Mädchenhafte des Austauschs besonders bekräftigt und zu den sachlichen Erörterungen reizvoll kontrastiert. Lous Haushalt in Göttingen, ein Häuschen mit dem wagnerianischen Namen „Loufried“, war, wegen der undeutlichen Beziehungen des Professors zu seiner Frau sowie einem Dienstmädchen (mit dem er ein Kind hatte?), „verwahrlost“, wie Lou einmal schreibt. Man möchte an Virginia Woolf und den Bloomsbury-Kreis denken. Lou kam halt aus der künstlerischen und intellektuellen Boheme zu Freud – und Leonard Woolf war als Chef der Hogarth Press sein englischer Verleger.
Kein Wunder, dass die Psychoanalyse, die sich so strikt an der Unterscheidung Fantasie/Wirklichkeit orientiert, gerade in der Literatur- und Kunstwelt solche Resonanz fand.
Lou Andreas-Salomé – Anna Freud: „… als käme ich heim zu Vater und Schwester“. Briefwechsel 1919–1937. Wallstein, Göttingen 2001, zwei Bände, zusammen 970 Seiten, 84 €
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