: „Das macht meine Frau zu Hause nebenher“
Andere Kriterien, andere Bewertung – wie es kommt, dass Frauen trotz proklamierter Lohngerechtigkeit weniger Geld bekommen
Herr M. riecht wieder so unangenehm. Die Mitbewohner im Altenheim beschweren sich bei den Pflegerinnen. Die versuchen, Herrn M. zu waschen. Aber Herr M. ist ganz anderer Ansicht. Ständig werde er gewaschen, man nötige ihn pausenlos, unbequeme Prozeduren über sich ergehen zu lassen, klagt er seiner Tochter. Die beschwert sich bei der Heimleitung über die „Schikanen“. Mühsam versucht Pflegerin Marion Schnurawa, dort die Lage zu klären. Währenddessen sieht sie die 88-jährige Frau S. zur Tür hinausspazieren. Die wieder einzufangen wird auch nicht leicht.
Alltag in einem Altenheim in Hannover. Lauter unvorhergesehene Ereignisse, für die eine Pflegerin wie Marion Schnurawa am Ende 2.450 Euro brutto auf dem Gehaltskonto haben wird.
Klaus Walther* ist Abwassertechniker. Er verteilt Aufträge für Kanalarbeiten an Baufirmen , deren Arbeit er dann kontrolliert. Manchmal steigt er runter in den Kanal, ansonsten macht er Abrechnungen. Besondere Schwierigkeiten? Walther überlegt: „Nee, eigentlich nicht.“ Auch Klaus Walther bekommt 2.450 Euro brutto.
Gerecht? Nein, fand ein Projekt der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di heraus. Frau Schnurawa müsste mehr verdienen als Herr Walther. Aber Altenpflegerinnen, die Psychologiekenntnisse haben müssen, Erzieherinnen, von denen eine schöne Kindheit abhängt, Krankenschwestern, die Ansteckungsgefahren, anstrengende Patienten und deren Anmache ertragen und dabei noch lächeln – das sind Berufe, die der klassischen Haus- und Familienarbeit ähneln. Und die sind eben schlecht bezahlt; nichts zu machen.
Oder? Ver.di hat die Arbeit von Marion Schnurawa und Klaus Walther mit Hilfe eines Arbeitsbewertungssystems vergleichen lassen. Frau Schnurawa erreichte mehr als doppelt so viele Punkte wie Herr Walther.
Putzen und Menschen betreuen, „das macht meine Frau zu Hause nebenher“, beschied man Anfang der 90er-Jahre die ÖTV-Frauen, als die mit einer Kampagne erklärten: „Frauen wollen mehr!“ Man habe Wichtigeres zu tun, als über psychische Belastungen von Krankenschwestern nachzudenken. Der Bundesangestelltentarif BAT sei absolut geschlechtsneutral. Gleiche Lohngruppe – gleicher Lohn. So what?
Immerhin gab die ÖTV ein Gutachten in Auftrag. Und das brachte die heile Welt des BAT ins Wanken: Die Tarifbibel widerspreche europäischem Recht, stellten die Wissenschaftlerinnen Regine Winter und Gertraude Krell fest. Gleichwertige Arbeit müsse auch gleich entlohnt werden, steht im EU-Vertrag und in der entsprechenden Richtlinie. Die Entgeltsysteme müssen transparent sein. Der BAT aber lege nicht einmal genau dar, welche Anforderungen bei verschiedenen Arbeiten zu bewältigen seien. Und wenn, dann seien sie über verschiedene Spezialtarifbereiche verteilt und deshalb nicht mehr vergleichbar. So haben technische Berufe, eine Männerdomäne, einen eigenen Bereich; Pflegeberufe, meist Frauenarbeitsplätze, einen anderen. Von Transparenz keine Spur. Emotionale und soziale Anforderungen kämen zudem überhaupt nicht vor.
Analyse bis ins Detail
Das Vergleichsprojekt in Hannover zog nun ein anderes Bewertungsverfahren heran. Es wurde in der Schweiz von den Arbeitswissenschaftlern Christian Katz und Christoph Baitsch entwickelt: Abakaba, die „Analytische Arbeitsbewertung nach Katz und Baitsch“ (siehe Kasten rechts). Im Gegensatz zum „summarischen“ Verfahren, das die deutschen Tarifparteien anwenden, ist dieses Verfahren „analytisch“, weil es jede Tätigkeit bis ins Detail aufschlüsselt und bewertet. Bei der Summarik dagegen peilt man die Anforderungen quasi über den Daumen.
Klaus Walthers Arbeitsplatz kam auf 40 Punkte, Marion Schnurawas auf 85. Warum? In die Abakaba-Bewertung werden auch psychosoziale Anforderungen aufgenommen, die im BAT nicht vorkommen. So muss eine Altenpflegerin kooperationsfähiger sein, Einfühlungsvermögen besitzen, muss das Leid anderer und auch „ekelerregende Situationen“ ertragen. All das trifft auf den Abwassertechniker nicht zu. Obwohl beide im „intellektuellen Bereich“ auf fast dieselbe Punktzahl kamen, liegt Marion Schnurawa deshalb – wird der „psychosoziale Bereich“ addiert – weit vor Klaus Walther.
Ohne Tarifvertrag lässt sich die Punktzahl nicht direkt in ein Gehalt übertragen. Doch im Schweizer Kanton Fribourg wurde der öffentliche Dienst mit Abakaba neu bewertet: Seit Januar bekommen Krankenschwestern hier 300 Franken mehr.
Hebt Abakaba nun den BAT aus den Angeln? Dafür müsste erfolgreich gegen das Tarifsystem geklagt werden. „Das wird schwierig“, sagt Gertraude Krell, Leiterin des Projekts und Professorin für Betriebswirtschaft in Berlin: „Wer klagt schon gegen seinen eigenen Arbeitgeber?“ Immerhin sahen die Arbeitgeber von Bund, Ländern und Kommunen in Deutschland dem Vergleichsprojekt interessiert zu und wollen sich demnächst auf einem Workshop darüber informieren. Ver.di dagegen möchte, wenn der BAT nach der diesjährigen Tarifrunde entrümpelt wird, auch die Arbeitsbewertungsfrage auf die Tagesordnung setzen. Dafür wird wohl auch der Kollege sorgen, der das Projekt in Hannover vor Jahren mit austüftelte: Er ist Ver.di-Vorsitzender und heißt Frank Bsirske.
HEIDE OESTREICH
* Name von der Redaktion geändert
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