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Die Bedeutung der Eiersuche

Vera Iwanowna ist Schaffnerin in Kasachstan. Sie hat einen russischen Pass, fühlt sich aber innerlich als Deutsche. Schließlich steht sie für Sauberkeit und Akkuratesse – und versteckt zu Ostern Nester. Ein Porträt vor kulturhistorischem Hintergrund

von JÖRG ALBINSKY

Vera Iwanowna stampft durch den Gang. Allen hat sie gesagt, dass das Klo kaputt ist, trotzdem war jemand drauf. Die leicht korpulente Frau trägt die Haare dick zum Zopf gebunden nach hinten. Im rechten Ohr funkelt ein kleiner Metallschmetterling. Mit einem Ruck reißt sie eine Abteiltür auf und fragt drohend in den Raum, ob von den werten Herren vielleicht …

Die vier Männer in Trainingshosen zucken die Schultern. Die Waggonschaffnerin lässt den Blick über ihnen kreisen, dann stellt sie triumphierend die Frage: „Und wer macht das jetzt weg?“ Stille. Die Männer haben Nacken dick wie Baumstämme. Trotzdem sagt keiner was. Die Frau mit der frisch gestärkten Bahnuniform ist der Chef. Und bis Pawlodar sind es noch gut 1.800 Kilometer.

Das Land, für dessen Eisenbahn Vera Iwanowna arbeitet, ist fast so neu wie ihr Metallschmetterling: Kasachstan – breit wie Australien und meist flach wie eine Frisbeescheibe. Seit der Eroberung durch Russland diente das Land als gewaltiges natürliches Gefängnis. Niemand brauchte hier Zäune zu bauen. Aus der flachen Endlosigkeit gab es kein Entkommen. Ergebnis der zaristischen wie sowjetischen Verbannungspolitik ist, dass heute mehr als 120 Nationalitäten in dem zentralasiatischen Land leben. 300.000 davon sind ethnische Deutsche wie Vera Iwanowna. Doch deren Zahl geht rapide zurück.

Auch die Zugbegleiterin will weg. Den halben Monat pendelt sie zwischen Almaty im Süden und Pawlodar nahe der russischen Grenze. Dann hat sie genauso viele Tage frei. Seit beinahe zehn Jahren geht das so. In dem kleinen Haus in Krasnoarmejka, einem Dorf bei Pawlodar, lebt ihre Mutter, die dreißig Euro Rente bezieht. Der 16-jährige Sohn geht in die Lehre als Koch. Dafür trägt sie die Kosten ebenso wie für die Lebensmittel, die er in der Ausbildung verbrät oder verdünstet. Zwanzig Euro macht das, ein Viertel ihres monatlichen Einkommens. So muss sie an den freien Tagen schwarzarbeiten. Ein Bekannter bringt Klamotten aus China mit, dann tingelt sie durch die Neubaublocks der Bezirksstadt. Die Haustürgeschäfte bringen noch einmal so viel wie ihr Gehalt.

Der Zug rattert ruhig durch die Steppe. Mittwochvormittag, ein paar Reisende stehen im Gang und schauen ins endlose Nichts. Vera hat die Toilette gewischt und serviert jetzt heißen Tee. In Deutschland, da muss sie lachen, nein, da war sie noch nie. Aber in Polen ist sie einmal gewesen. Besonders die Kirchen, die gemähten Rasen haben ihr gefallen und alle zehn Meter ein Papierkorb. „An so einer großen Hauptstraße stand eine Säule mit einer Marienfigur. Die Maria hielt ein Tuch in der Hand. Stellen Sie sich vor“, und jetzt leuchten ihre Augen, „das Tuch war weiß, richtig weiß, obwohl die ganzen Autos vorbeifuhren. Da habe ich mir gedacht, wie sauber muss das erst in Deutschland sein!“

Iwan Andrejewitsch, Veras Vater, war 1941 wie knapp zwei Millionen andere auch in Viehwaggons von der Wolga gen Osten deportiert worden. Irgendwo in der Steppe hielt der Zug und warf seine Ladung raus. Wer die Fahrt und den ersten Winter überlebte, landete häufig nach Kriegsende im nahen Karlag, dem Gulag der Bergarbeiter von Karaganda. Die nicht im Zwangsdienst endeten, standen in ihren Dörfern auch nach Stalins Tod noch Jahre unter Arrest. Um ihnen die Repressionen zu ersparen, sprach Iwan Andrejewitsch – wie die meisten anderen – mit seinen Kindern kein Wort Deutsch. Keiner sollte sie in der Schule als „Fritz“ beschimpfen.

Laut Pass ist Vera heute wie ihre Mutter Russin. Innerlich aber fühlt sie sich als Deutsche, und damit meint sie Akkuratesse, Sauberkeit, Pünktlichkeit. Sie spricht Russisch, sie denkt Russisch, sie lacht laut und herzlich. Doch Veras innere Überzeugung ist stark wie ihr sauber gebügeltes Hemd. Schließlich färbt sie zu Ostern Eier und versteckt Nester.

Auf Deutsch spricht die Zugbegleiterin Vera Iwanowna Worte wie „danke“, „Eisenbahn“ und „teuer“, was sie aber nicht von ihrem großen Plan abhält: Die Ausreise nach Deutschland. Sprache lässt sich lernen, das Passproblem kriegt man auch irgendwie hin in Absurdistan, wo mit ein wenig Geschick auch eine neue Geburtsurkunde zu erwerben ist.

Ein Großteil der Verwandtschaft lebt schon in Deutschland, und nun will sie es aus eigenen Kräften versuchen. Was bleibt ihr auch. In den benachbarten Dörfern von Krasnoarmejka, in Thälmanna oder Olgena stellten die Russlanddeutschen teils bis zu neunzig Prozent der Bevölkerung. Als aber 1991 auf den postkommunistischen Ruinen Kasachstan entstand, setzte der Zerfall mit so brachialer Gewalt ein, dass vielen die Hoffnung wegbrach.

Bis dato hatte Vera Iwanowna in einer Sowchose Blumen gezüchtet. Inzwischen holt sich die Steppe das Terrain zurück. Von sechzehn Kolchosen im Rayon arbeiten heute noch zwei. Auf den Feldern gedeiht allenfalls das geflügelte Übel, Heuschreckenschwärme, die zuletzt vor zwei Jahren ein Gebiet von der Größe Mitteleuropas niedersäbelten.

Vera ist realistisch und ist es doch wieder nicht. Ein Teil ihrer Träume ist mehr inneres Mutmachen als konkretes Ziel. „Heimat?“, fragt sie nachdenklich, „Heimat ist da, wo mein Sohn lebt. Ich will, dass es ihm besser geht. Wenn er mit der Kochlehre fertig ist, soll er drüben in Deutschland ein Spezialitätenrestaurant aufmachen. Ich will dort einen Landwirtschaftsbetrieb aufbauen. Hier ist das ja gar nicht realistisch.“ Ob dort Landwirte gebraucht werden?

Draußen zieht die Endlossteppe vorbei. Vera zuckt mit den Schultern. „Na wenn es nicht klappt, dann bleiben wir eben hier.“ Die Nachdenklichkeit weicht ihrem forsch-freundlichen Wesen und sie tritt wieder auf den Gang. Minus 30 Grad, der Wind heult um den Zug. Nach Karaganda ist die Strecke nicht elektrifiziert. Vera muss Kohlen nachlegen, sonst wird es ungemütlich. Die Eisenbahn, das kann nicht alles gewesen sein. Hier wird sie jedenfalls nicht bleiben, so viel steht fest.

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