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Das Nichts und die Metropolenparty

Kommende Woche wird es in der Hauptstadt wieder hoch hergehen: Heraus zum Berliner Krawallkarneval am revolutionären 1. Mai. Bei aller Prügelei wird Autonome und Polizisten eine Überzeugung einen: Gewalt bedarf der Begründung. So verbleiben beide Seiten im Wertekanon der Zivilgesellschaft

Das Schaulaufen einer dunklen, destruktiven Form von Extremsportart

von ULRICH WOELK

Meinen ersten und einzigen Hieb mit einem Schlagstock habe ich vor langer Zeit an einem sommerlich heiteren 1. Mai in Kreuzberg bezogen. Die Abendluft war sanft und der Himmel getränkt in ein mildes Blau. Am Ende der Straße brannte ein alter lindgrüner Ford Taunus, und auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite grub ein kleiner Trupp vermummter Autonomer Pflastersteine aus und schichtete sie sehr ordentlich zu einem pyramidenförmigen Munitionsdepot. Zusammen mit 15 oder 20 anderen Schaulustigen lehnte ich an einer Hauswand und sah ihnen dabei zu. Damals rauchte ich noch, und ich nehme an, dass ich – dort stehend und das ungeschriebene Theaterstück dieses ersten Mais verfolgend – eine Zigarette rauchte, bis auf unserer Straßenseite eine zehnköpfige Polizeieinheit im Laufschritt anrückte. Und wie Kinder einen Stock an einem Lattenzaun entlangklappern lassen, so ließen die behelmten Polizisten im Vorüberlaufen ihre Schlagstöcke über uns nebeneinander stehende Zuschauer hüpfen. Der Hieb, der mich traf, war eine flinke und unerwartete Erfahrung, nicht so sehr schmerzhaft als vielmehr irritierend. Er traf recht präzise die weiche Flanke über meinem linken Hüftknochen, und nachdem ich begriffen hatte, was geschehen war, empörte ich mich natürlich über den skandalösen Vorgang, der mir zugleich als Erfahrung aber doch willkommen war: Das also war Gewalt.

Die Bilder von den Gewaltausbrüchen am 1. Mai, von brennenden Autos und dichten Polizeikordons gehören mittlerweile zu Berlin wie jene vom 9. November 89 oder von den Reden amerikanischer Präsidenten vor dem Brandenburger Tor. Eines allerdings ist anders: Es scheint keinen wirklichen Anlass für diese nächtlichen Straßenschlachten zu geben, sie entstehen anscheinend aus dem Nichts oder höchstens aus der Erwartung, dass es dazu kommen muss. Längst gleichen sie dunklen Prophezeiungen, die sich selbst erfüllen.

Ich bin in den vergangenen 15 Jahren nicht bei jeder Maifeier dabei gewesen, nur manchmal hatte ich das Gefühl, von irgendeiner höheren Instanz oder moralischen Warte aus gewissermaßen verpflichtet zu sein, die Vorgänge zu beobachten. Die spektakuläre Szenerie hat bei mir dabei zumeist einen Eindruck von Fremdheit und Kuriosität hinterlassen, nie aber von ernsthafter oder gar notwendiger gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Ich glaube nicht, dass die Ursachen für diese Straßenschlachten, die ja formal als Demonstrationen beginnen, tatsächlich im engeren Sinne politischer Natur sind. Der Kern der Gewalt ist keine Verzweiflung über die Missstände in der Welt, sondern – so kam es mir immer vor – eine untergründige Lust am zerstörerischen Verhalten. Das vermeintliche Aufs-Spiel-Setzen der eigenen Existenz im (Straßen-)Kampf wirkte auf mich wie ein narzisstischer Akt, von dem die Allgemeinheit überhaupt nichts hat. Und so konnte ich in den Gewalteruptionen am 1. Mai in der Regel kaum etwas anderes sehen als das Schaulaufen einer dunklen destruktiven Form von Extremsportart.

Dass Gewalt faszinierend archaisch und sozusagen eine Stufe existenzieller sei als Friedfertigkeit, hat mir nie eingeleuchtet und ich habe es auch nie so empfunden. Mein Leben hat mich unmerklich, aber stets davon entfernt, im Er- und Ausleben von Gewalt eine lustvolle Erfahrung zu vermuten. Bereits als Kind bin ich Schlägereien instinktiv aus dem Weg gegangen. Meine Stärken – und dies war mir tatsächlich von frühester Kindheit an irgendwie bewusst – lagen nicht im Körperlichen, sondern im Geistigen. Ich war nicht kräftiger als die meisten anderen, aber klüger. Ich musste andere Strategien der Konfliktlösung und der Selbstbehauptung entwickeln, als mich in der Schule zu prügeln. Inzwischen habe ich mich so weit von der Ausübung von Gewalt entfernt, dass diese für mich nur mehr eine ferne Erinnerung ist, die mein emotionales Gedächtnis mit schwachen Signalen von Unbehagen unterlegt.

Das einzige Attribut, das ich spontan mit Schlägereien assoziiere, ist ihre Primitivität. Es scheint mir nicht einmal nötig, Gewalt als etwas moralisch Unschönes oder gar Böses zu brandmarken, denn es zeigt sich ja, dass die Zivilgesellschaft, in der wir leben, die Dinge durchaus in die gewünschte Richtung lenkt: Wem Alternativstrategien der Konfliktlösung außer dem Um- sich-Schlagen nicht zur Verfügung stehen, kommt in der Regel nicht sehr weit. Ganz entgegen manchem Vorurteil sind es nämlich nicht die Rowdys, die in einer Industrienation bestimmen, wo es langgeht, sondern die Streber. Als ich im vergangenen Jahr von einer Gruppe engagierter ehemaliger Mitschüler zu einem Klassentreffen eingeladen worden bin, hat eine nicht repräsentative Analyse dieses Treffens ergeben, dass die mit den besten Zeugnissen und der geringsten Neigung zur Gewaltausübung inzwischen die einflussreichsten Jobs hatten, während die reich gewordenen Sitzenbleiber oder Taxi fahrenden Genies die Ausnahme waren.

Als Zuschauer habe ich die Gewalt des 1. Mais nie als archaisch erlebt, sondern sie kam mir immer sehr altmodisch vor: Männer, die mit Stöcken durch die Gegend laufen, rhythmische Provokationsgesänge auf der Gegenseite, Uniformen hüben wie drüben. Gewaltausbrüche, wie sie sich am 1. Mai ereignen, scheinen ihre Ursache in einer Art Marodieren aggressiver Instinkte zu haben, denen im befriedeten Umfeld der spätbürgerlichen Zivilgesellschaft der Feind abhanden gekommen ist. Sie sind ein Erbe unserer zutiefst evolutionären Herkunft. Verhaltensprogramme zur Selbstverteidigung oder zur Eroberung neuer Lebensräume sind offenbar leichter zugänglich als Diplomatie, komplizierte Appeasementprozeduren oder andere Konfliktlösungsstrategien. Und da für diese Programme neben dem Sport keine gesellschaftlich akzeptierte Anwendung mehr zur Verfügung steht, sie sich andererseits aber auch nicht einfach löschen lassen, bleibt ihnen nur der Weg in die Sublimation.

Die Nähe zum Sportereignis und zum Aufeinandertreffen zweier gegnerischer Teams ist mir bei meinen Streifzügen durch die Maifeierfronten immer wieder in den Sinn gekommen. Ich habe nie beobachten können, dass sich der Übergang vom Straßenfest zur Straßenschlacht in klar erkennbaren Ursache-Wirkung-Schritten vollzogen hätte. Vielmehr provozieren Polizei und Autonome sich gegenseitig, und die Eskalation folgt einem ungeschriebenen Protokoll, so wie es bei Länderspielen ein festgelegtes Ritual des Spielbeginns gibt: Der Einlauf der Mannschaften, das Absingen der Nationalhymnen, die Seitenauslosung, der Anpfiff – all das vollzieht sich nach einem bestimmten Schema, bis es schließlich zum ersten Foul kommt, das eben nicht Ausdruck der nationalistischen Gesinnung eines Spielers ist, sondern der Logik des Spielverlaufs entspricht.

Ebenso wenig, wie ich den Eindruck gewonnen habe, dass die Anwesenheit der Polizei auf dem Schlachtfeld einzig und allein dem Schutz der Allgemeinheit dient, habe ich jemals an die politischen Parolen der Gegenseite geglaubt. Diese erscheinen mir im Zweifelsfall sogar ausgesprochen zynisch. Vermutlich wird in diesem Jahr im Vorfeld des 1. Mais die Solidarität mit dem palästinensischen Volk von verschiedenen Seiten beschworen werden. Das bedeutet aber nichts anderes, als den Nahostkonflikt und seine Opfer zu instrumentalisieren. Zugespitzt könnte man sagen: Das vom Versagen realer Politik produzierte Leid wird benutzt, um eine dunkle, obsessive Metropolenparty zu legitimieren. Beruhigend daran ist nur, dass sich beide Seiten, die autonome sowie die staatliche, erstaunlicherweise in einem einfachen Konsens treffen: Beide stellen ihre jeweilige Gewaltanwendung als Reaktion dar. Beide Seiten fügen sich dem moralischen Anspruch, dass Gewalt als Ausnahmemittel der speziellen Begründung bedarf, und verbleiben so im Wertekanon der Zivilgesellschaft.

Ein Blick in die Gesichter der Schlachtgegner, sofern sie denn hinter ihren Helmen oder Vermummungskappen sichtbar waren, hat mir immer den Eindruck vermittelt, dass es eher biografische Zufälligkeiten sind, die den Einzelnen auf der einen oder anderen Seite der Front landen lassen. Und manchmal habe ich mich gefragt, was denn wäre, wenn eine der beiden Seiten – einem altbekannten Witz folgend – erst gar nicht auf dem Schlachtfeld erscheinen würde? Vermutlich käme es die Stadt billiger, die durch Vandalismus entstehenden Schäden unbürokratisch zu begleichen, anstatt eine eigene Streitmacht aufzustellen. Es mag rechtlich nicht möglich sein, Vandalismus zu tolerieren, aber gewiss gibt es verschiedene Intelligenzgrade der Reaktion. Man könnte sogar darüber spekulieren, ob im Fall einer Gefechtsverweigerung aus dem Krawalldatum nicht innerhalb von ein, zwei Jahren die Luft heraus wäre und die ganze Angelegenheit sich von selbst erledigen würde.

Erstaunlicherweise ist die gesamte Reihe meiner Erinnerungen an den 1. Mai von ausschließlich wunderbarem Wetter geprägt. Mir kommt es so vor, als seien es immer nur warme laue Nächte gewesen, in denen sich die hässliche Steigerung von Gewalt und Gegengewalt ereignet hat. Es mag aber auch sein, dass ich mich nur in solchen Nächten aufgemacht habe, den Ersten Mai zu feiern, der für mich als Datum bis heute eine Form von Verheißung geblieben ist, ein Versprechen von Intensität, Wärme und Leben. Vielleicht ist diese Sommersehnsucht ja das evolutionäre Gegenstück zu den triebhaften Gewaltausbrüchen auf der Straße. Liebe und Aggressionsbereitschaft liegen nah beieinander, aber ich glaube nicht, dass wir beiden Trieben hilflos ausgeliefert sind. Es ist immer auch eine Frage der persönlichen Entscheidung, welchen Instinkten man folgt.

Ulrich Woelk ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Zuletzt erschien sein Roman „Liebespaare“. Darin gibt es auch eine 1.-Mai-Krawall-Episode.

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