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Vom Trauma zum Spleen

Die deutsche Diskussion um den Nahostkonflikt entwickelt sich immer mehr zum Selbstverständnisdiskurs: Niemand ist gewillt, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen

Der Gedanke, dass Israels Regierung dem Druck der EU nachgeben würde, zeugt von Realitätsverlust

„Life is xerox: You ’re only a copy“ (Spontiparole)

Der antisemitisch aufgeladene Konflikt zwischen zwei Gruppen nordafrikanischer Einwanderer, zwischen Juden und Muslimen, ist in Frankreich bitterer Ernst. Zeitgleich wird die Auseinandersetzung in Deutschland zur Wahlkampffarce. Palästinenser und Mitglieder jüdischer Gemeinden demonstrieren ihre Solidarität mit Arafat oder Scharon. Dabei werden beiderseits Vernichtungsfantasien wach: Wird hier ein zweiter Holocaust befürchtet, so staffiert dort ein Vater seine kleine Tochter mit Attrappen von Handgranaten aus.

Während der mörderische Fanatismus vieler Palästinenser keinem Zweifel unterliegt, ist umgekehrt die jüdische Angst vor einem weiteren Holocaust angesichts der ungeheuren militärischen Überlegenheit Israels objektiv unbegründet. Bei alledem hat sich die Sicherheitslage der jüdischen Gemeinden in der Diaspora nicht verbessert – die Innenminister der EU haben auf antisemitische Schmierereien, das Anschwellen von Hatemails und tätliche Angriffe soeben mit einem neuen Programm reagiert. So dürfte das um sich greifende Gefühl, einer nicht mehr beherrschbaren Welle des Antisemitismus ausgesetzt zu sein, der realen Stimmungslage in der deutschen Gesellschaft wohl nicht entsprechen. In bescheidenerem Ausmaß als in Frankreich gilt vielmehr auch hier, dass ethnische Identifikationen über bestehende Verwandtschaftsbande hinaus vor allem die Situation in der Einwanderungsgesellschaft reflektieren.

Das belegt etwa die Tatsache, dass an der Frankfurter Solidaritätskundgebung des Zentralrats der Juden neben fundamentalistischen Christen vor allem russische Einwanderer teilnahmen. Russische Immigranten machen mehr als die Hälfte der hier lebenden Juden aus und waren in der Sowjetunion mehr als sechzig Jahre lang atheistischer Judenfeindschaft ausgesetzt. Heute finden sie ihr Selbstverständnis oft genug dort, wo Identität scheinbar umstandslos zu haben ist: in nationaler Identifikation.

Juden, Palästinensern und auf den Nahostkonflikt reagierenden deutschen Politikern entgeht in ihrem Eifer, dass ihre Aktivitäten mit sich und der Lage in Deutschland alles, mit den Macht- und Moralverhältnissen in Israel/Palästina jedoch nichts zu tun haben. Nachdem in Düsseldorf ein grüner Landtagsabgeordneter syrischer Herkunft zur FDP übergetreten ist, erlebt die Bundesrepublik erstmals, dass der Nahostkonflikt den Wahlkampf– wenn auch nur zwischen den beiden kleinen liberalen Parteien – mitbestimmt: Kritische Freundschaft mit oder deutliche Kritik an Israel fungieren als wohlfeile Profilierungsprojekte.

Als Novum in mehr als fünfzig Jahren Bundesrepublik ist zu verzeichnen, dass die Repräsentanz der jüdischen Minderheit in den Wahlkampf eingreift. Die Politik Paul Spiegels, Michel Friedmans und der ihnen folgenden Gemeindevorstände bewegt sich seit einiger Zeit von dem israelischen Botschafter zugedachten Gesten weg, hin zu einer – angesichts der wenigen tausend jüdischen Wähler – absurden Intervention: Soeben hat die offiziöse Jüdische Allgemeine ihre Leser aufgefordert, der FDP keine Stimme zu geben, um einem eventuellen Außenminister Westerwelle seine Auftritte in den USA zu vergällen.

Der Eindruck des Unwirklichen verstärkt sich angesichts der im Bundestag geführten Debatte um UN-Truppen an der blutigen Grenze zwischen Juden und Palästinensern. Diese Diskussion wirkte zwar nach außen wie eine nüchterne außenpolitische Aussprache, erwies sich jedoch schon deshalb als deutscher Selbstverständnisdiskurs, weil man einfach nicht gewillt war, die Realitäten in Nahost zur Kenntnis zu nehmen. So ist bezüglich der von Schröder und Fischer grundsätzlich befürworteten deutschen Beteiligung an einer „Sicherheitskomponente“ daran zu erinnern, dass Israel einer Stationierung fremder Truppen niemals zustimmen wird.

Die jüdisch-israelische Bevölkerung erinnert sich noch heute traumatisch an den Frühsommer 1967, als die UN auf Geheiß des ägyptischen Diktators Nasser ihre militärischen Puffer von einem Tag auf den anderen zurückzog. Zudem: Auch nur zu denken, dass eine israelische Regierung, die sich nicht einmal dem Druck der US-Administration beugt, Pressionen der EU nachgeben würde, zeugt von Realitätsverlust. Sogar der vom Verteidigungsministerium verfügte Lieferstopp von Panzermotoren an Israel stellt nicht mehr als eine symbolische Geste fürs heimische Publikum dar. Konsequent befolgt, würde er nur zur Schwächung der Bundeswehr führen, da die Truppe im Gegenzug auf israelische Feinelektronik angewiesen ist.

Schließlich: Halbwüchsige palästinensische Mädchen, die sich und Unschuldige unter Grauen und Schmerz in den Tod reißen, lassen sich mit Panzern ohnehin nicht bekämpfen. Die antideutsche Linke wartet ob der nicht mehr mit saudischem Lobbygeld erklärbaren befreiungsnationalistischen Erregung etwa Jürgen Möllemanns und Norbert Blüms mit dem schweren Geschütz der Psychoanalyse auf. Sie entdeckt – gewiss zu Recht – unbewusste Wünsche nach Entlastung der nationalsozialistischen Täter und nach Wiedergutwerdung der diffamierten Nation.

Freundschaft mit oder Kritik an Israel fungieren im Wahlkampf erstmalig als Profilierungsprojekte

Eine solche Diagnose – sollte sie insgesamt gelten – würde indes Persönlichkeiten unterstellen, die einen unbewussten Konflikt austragen und von der Last der Geschichte mindestens angegangen, wenn nicht gar zerrissen werden: Formen des unglücklichen Bewusstseins immerhin. Die Tausendsassas der rot-grünen Außenpolitik – der Kanzler allen voran – haben aber mit alledem nichts mehr zu tun: Was jetzt betrachtet werden kann, ist das mit sich und der Welt zufriedene, von aller Geschichte unbeschwerte, glückliche Bewusstsein im Zustand seiner weltpolitischen „Verantwortungsübernahme“, sprich: imperialen Erhebung.

Die Gewissenskonflikte einer ehemaligen Linken, ob und unter welchen Bedingungen man Israel kritisieren dürfe, erweisen sich endlich nur noch als Recycling vergangener Debatten. In den Zwanzigerjahren erhob die KPD bekanntlich die bejahende Haltung zur Sowjetunion zum Maßstab ihres Handelns. Indem der deutsche Außenminister heute die Haltung nicht nur zu Israel, sondern sogar zu den USA zum Kriterium politischer Korrektheit erhebt, huldigt er einem Konkretismus, der die Dynamik und den Universalismus der von ihm selbst geforderten Menschenrechtskultur verkennt.

Dem im Blick auf Nahost immer wieder von Antisemiten missbrauchten Menschenrechtsdiskurs wohnt nämlich ein Eigensinn inne, der durch Opportunitätserwägungen nicht zu disziplinieren ist. Alle Menschen haben das Recht, wenn nicht gar die leise Pflicht, gegen Menschenrechtsverletzungen mindestens die Stimme zu erheben – egal wo sie geschehen. Derlei Protest mit bewusster Verantwortung für das singuläre Verbrechen des Holocaust zu vermitteln, bleibt die wahrscheinlich unlösbare Aufgabe einer spezifisch deutschen Menschenrechtskultur. MICHA BRUMLIK

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