piwik no script img

Ein beinhartes Geschäft

Die Entwicklung des Städtchens New Bedford an der Küste von Massachusetts ist eng mit der Geschichte des Walfangs und der Fischerei verknüpft. Vor 150 Jahren hat Herman Melville dem Ort in seinem Klassiker „Moby Dick“ ein Denkmal gesetzt

von FRANK MATTER

„Jeder dritte Fixer ist HIV-positiv“, warnt ein Plakat in der altehrwürdigen Seemannskneipe am Hafen. Im Schummerlicht sitzen ein paar Männer vor halb leeren Budweiser-Flaschen. Wenn jemand das Lokal betritt, blicken sie kurz auf, dann verfallen sie wieder in dumpfe Grübeleien.

Draußen ist es dunkel geworden. Durch das ausgestorbene Stadtzentrum bläst eine steife Brise. Entlang der Hauptstraße stehen mehrere leere Gebäude, die Fenster und Türen sind mit Brettern zugenagelt, die Schaufenster ausgeräumt. „For Sale“ verkünden die Schilder an den Fassaden. Noch fallen einem aber überall die Spuren einstiger Grandezza auf – das glamouröse Zeiterion-Theater an der Purchase Street, die großzügig angelegten Banken und Warenhäuser, die Bibliothek, das behäbige Rathaus, die prächtigen Holzvillen in der Oberstadt.

„Nirgends in Amerika wirst du mehr Patrizierhäuser finden, opulentere Parkanlagen und Gärten als in New Bedford“, schrieb Herman Melville vor 150 Jahren in seinem Roman „Moby Dick“. Das Quäkerstädtchen gehörte damals zu den wohlhabendsten Orten in der westlichen Hemisphäre, das Pro-Kopf- Einkommen soll gar das höchste der Welt gewesen sein. Ihren Reichtum verdankten die Einwohner der boomenden Walfangindustrie, was Melville zur Bemerkung verleitete: „Ja, alle diese prächtigen Häuser und blumenreichen Gärten stammen aus dem Atlantischen, Pazifischen und Indischen Ozean; sie wurden mit Harpunen gefangen und vom Meeresboden hierhin hinaufgezogen.“

Der Walfang war ein beinhartes Geschäft, das raue und todesmutige Männer aus der ganzen Welt anzog, „Bauernlümmel-Dandys“ aus der amerikanischen Provinz ebenso wie „Kannibalen, richtiggehende Wilde“, die „heidnisches Fleisch auf ihren Knochen tragen“, wie Melville ironisch notiert. Die Reisen dauerten zwei bis drei Jahre und führten am gefährlichen Kap Horn vorbei in abgelegene Gebiete des Pazifiks. Um ihre Öltanks zu füllen, mussten die Crews bis zu 35 Wale töten. Die Arbeit an Bord der engen, stickigen, aus Profitdenken oft ungenügend ausgerüsteten Schiffe war nichts für Zaghafte.

Als eine lokale Produktionsgesellschaft 1923 in New Bedford ein Melodram aus dem Walfängermilieu verfilmte, schickte sie auf einem der letzten Walschiffe ein Kamerateam in die Karibik. Die dabei entstandenen, im New Bedford Whaling Museum zu sehenden Sequenzen halten im Bild fest, was Melville 70 Jahre früher so wortreich beschrieben hatte: den unerbittlichen Kampf zwischen Mensch und Bestie. Die Jäger näherten sich den Walen auf kleinen, vom Mutterschiff ausgesetzten Ruderbooten bis auf wenige Meter Distanz, so dass der Harpunier seine Lanze von Hand ins Fleisch der Riesensäuger stoßen konnte. Das Tier schlug aus und setzte zur Flucht an; dabei zog es das an der Harpune festgekettete Ruderboot meilenweit in schwindelerregender Geschwindigkeit hinter sich her. Sobald der Wal sein Tempo erschöpft drosselte, wurde er mit weiteren Hieben getötet und in kleine Stücke zerlegt. An Bord des Mutterschiffes kochte die Mannschaft das Öl dann aus dem Fettgewebe aus.

Die Nachfrage nach Walölen war seit Anfang des 19. Jahrhundert gewaltig gestiegen. Man verwendete die schmierigen, leicht brennbaren Substanzen nicht bloß für Kerzen, Öllampen und Straßenbeleuchtungen, sondern auch für zahlreiche frühindustrielle Prozesse. Allein in New Bedford, dem Zentrum der Flotte, waren um 1850 über 330 Walschiffe registriert, die mehrere tausend Menschen beschäftigten – Segelmacher, Schiffsbauer, Böttcher, Seilermeister, Schmiede, Provianthändler, Seemänner und Kapitäne. Insgesamt erlegten amerikanische Walfänger von 1835 bis 1872 fast 300.000 Beutetiere.

Da der Bestand dadurch drastisch reduziert wurde, mussten die Jäger in immer weiter entfernte Ozeane segeln, um überhaupt noch auf Walrudel zu stoßen. Gleichzeitig führte die Entdeckung von Petroleum zu einem Einbruch der Walölpreise. Um 1900 bestand die Flotte nur noch aus wenigen Booten, und 1924 lief das allerletzte Walschiff aus dem Hafen von New Bedford aus.

Bis zum Zweiten Weltkrieg sorgte eine stetig wachsende Textilindustrie für Cash und Arbeitsplätze. Dann setzte der langsame Niedergang ein, der sich Anfang der 90er-Jahre beschleunigte, als die Kammmuschel- und Speisefischbestände in den Küstengewässern drastisch zurückgingen und damit der mittlerweile wichtigste Erwerbszweig in eine Krise schlitterte. Während die USA den größten Boom ihrer Geschichte erlebten, stiegen in New Bedford die Arbeitslosenzahlen auf über 15 Prozent. Überall machten Geschäfte dicht, die Immobilienpreise fielen drastisch, und das einst stolze Patrizierstädtchen geriet jetzt mit seinen sozialen Problemen in die Schlagzeilen.

„Vor zehn Jahren gab es in New Bedford noch 500 Fischerboote, jetzt sind es kaum mehr 300“, sagt der Sozialarbeiter Rodney Avila, der mit seiner tiefen, brummenden Stimme und seinem runden Bauch direkt den Seiten eines Seefahrerromans entsprungen zu sein scheint. Avila war früher, wie sein Vater, seine sieben Onkel und 35 seiner Cousins, selber Fischer. Vor ein paar Jahren übernahm er die Leitung des Fishermen’s Family Emergency Center, wo er inzwischen Tausenden von arbeitslosen und ausstiegswilligen Seeleuten geholfen hat, sich umzuschulen und Jobs zu finden. Seine Aufgabe ist in jüngster Zeit etwas einfacher geworden, weil die Stadtregierung mit einer aggressiven Wirtschaftsförderung neue Betriebe in die 100.000-Seelen-Gemeinde gelockt hat.

Wie er aus seinem stattlichen, dunklen Wagen aussteigt, die imposante Figur in einen makellosen Anzug verpackt, mit dickem Schnauz, Sonnenbrille, dynamischer Frisur, ist filmreif. Bürgermeister Frederick M. Kalisz Jr. verbindet das Aussehen eines Mafiapaten mit dem bodenständigen Auftreten eines Kleinstadtsheriffs. In kurzen, bündigen Sätzen zieht er die Bilanz seiner fast vierjährigen Amtszeit: die Arbeitslosenrate sei auf fünf Prozent gesunken, die Fischverarbeitungsindustrie wächst. Er schwärmt von dem geplanten Aquarium und zukünftigen Hotel- und Tourismusprojek- ten.

Durch den jüngsten Aufschwung ist auch in den historischen Quartieren neues Leben erwacht. Zahlreiche Häuser wurden restauriert, für andere, noch immer leer stehende Gebäude und Geschäfte haben die Stadtväter große Pläne. Am Rande der Altstadt ist ein neuer, hässlicher Betonbau in den Himmel gewachsen, und bald soll ein Luxushotel mit riesigem Parkhaus folgen.

Doch auch heute lockt New Bedford Abenteurer an. An der Theke des sonst menschenleeren Whaler’s Edge sitzt ein gelangweilter junger Mann, der, obwohl es erst vier Uhr nachmittags ist, schon einige Biere intus hat. „Ich bin seit dem frühen Morgen hier“, sagt er schulterzuckend und fügt an, wenn er nicht auf Arbeitsuche sei, verbringe er praktisch seine ganze Zeit in diesem Lokal. „Sonst kann man in New Bedford nicht gerade viel unternehmen.“

Mark stammt aus New Jersey. Eines Tages beschloss er, dass er nicht bis ans Ende seines Lebens Pizzas in den Ofen schieben wollte, und heuerte für eine Weile auf einem riesigen Hochseeschiff an. Schließlich trieb es ihn nach New Bedford, das trotz Schrumpfungsprozess noch immer einer der wichtigsten nordamerikanischen Fischereihäfen ist. „Drei Wochen lang bin ich jeden Tag von Pier zu Pier gegangen, aber es brauchte niemand neue Leute.“ Dann hat es doch noch geklappt. Letzte Nacht ist Mark von seinem ersten Trip zurückgekehrt.

Was er vom Leben an Bord des Kammmuschelbootes erzählt, vom Anstellungsgespräch mit dem Kapitän, den Ritualen in der Messe, dem Verhältnis der abgebrühten Männer untereinander, erinnert in vielem an die Beschreibungen in „Moby Dick“. Die Aufgabe der zehnköpfigen Besatzung besteht vorwiegend darin, den essbaren Kern der Muscheln aus der Schale zu lösen. Nach acht Stunden Schälen und anderthalb Stunden Wacht stehen den Männern fünf Stunden Schlaf zu, dann beginnt die nächste Schicht. „Um ehrlich zu sein: es war ein Albtraum, eine furchtbare Plackerei“, stöhnt Mark.

Immerhin stimmt die Bezahlung. Die Muschelschäler sind am Erlös des Fanges beteiligt und machen in guten Jahren bis zu 100.000 Dollar. Eine besseres Jahr hätte Mark kaum erwischen können. „Es wird viel gedrögelt“, sagt Mark mit einer viel sagenden Handbewegung, während er ein weiteres Bier hinunterkippt. New Bedford hat eine der höchsten HIV-Raten von Massachussetts. Die meisten Infizierten sind Heroinkonsumenten, und viele davon ledige Fischer. „Die Burschen kommen mit viel Geld an Land und wissen nicht, was mit sich anfangen, bis es wieder auf See geht“, sagt Sozialarbeiter Avila. „An vielen Beerdigungen sind die Sargdeckel geschlossen“, zitiert eine andere Zeitung einen Wirt. „So sieht man nicht, dass der Kerl, der einst zweihundert Pfund wog, auf 65 Pfund abgemagert ist.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen