: Der ehrlichste Opportunist
Die Journalisten Matthias Geis und Bernd Ulrich versuchen einfühlsam und wohlwollend das Erfolgsgeheimnis des Joschka Fischer zu enthüllen
Wer den Mann bewundert, wird dafür Gründe zur Genüge finden, wer ihn verachtet ebenfalls – und allen, die noch nicht festgelegt sind, verheißt „Der Unvollendete“, dass noch offen ist, welches Ende es mit Joschka Fischer nehmen wird. Wo wird er seinen Resonanzboden finden, wenn ihm die Macht seines Amtes fehlt? Und wird der Verlust der Macht, ob im Herbst oder später, ihn vielleicht weniger lähmen als das schleichende Ende seiner Jugend, mit der noch der 50-Jährige kokettierte?
„Wenn man Tag und Nacht und sieben Tage in der Woche hinter der Revolution herackert, dann weiß man nach sieben Jahren nicht mehr, was Wahn und was Wirklichkeit ist, und man beginnt sich selbst zu verlieren.“ So spricht Fischer über das Ende seiner Revoluzzerjahre. Wird er so auch über seine Zeit als Außenminister reden? 1976 war er deprimiert und wurde Taxifahrer – was wird er Ende 2002 machen? Oder 2006? Drei Monate vor der Wahl liegt der Reiz des Buches von Bernd Ulrich und Matthias Geis nicht zuletzt darin, dass es reichlich Stoff für Spekulation liefert.
Wer sich auf dieses Spiel einlässt, hat sich schon auf ein Leitmotiv der Charakterstudie eingelassen: Es wäre ein Irrtum, diesen Mann mit seinem Amt gleichzusetzen – oder auch nur mit seinen Ideen. „Er war Hausbesetzer ohne Interesse an Häusern, Grünenpolitiker ohne Interesse an den Grünen, Umweltminister ohne Interesse an der Umwelt.“ Zu Kriegseinsätzen hat er es vermocht, in sechs Jahren vier verschiedene Positionen einzunehmen: Erst lehnte er militärische Interventionen ab, dann lehnte er eine deutsche Beteiligung ab, dann verfocht er eine deutsche Beteiligung nur bei Völkermord, und schließlich befürwortete er den Krieg in Afghanistan.
Ist so jemand nicht notwendigerweise ein Opportunist? Zumal wenn ihm oft erst der Positionswechsel einen Ämterwechsel erlaubte? Geis und Ulrich bieten die faszinierendste Lektüre, die es bislang über Joschka Fischer gibt, weil sie ihn angreifbar machen, ohne ihn auszuliefern.
„Der Unvollendete“ ist vor allem zweierlei: ein Erlebnis- und ein Thesenbuch. Seit zwanzig Jahren kennen Zeit-Autor Geis und Tagesspiegel-Redakteur Ulrich das Objekt ihrer Studien. Sie haben das eigentümliche Wechselspiel aus Nähe und Aggression erfahren, das zwischen Journalisten und einem Politiker mit Boxernatur herrscht, der Berichterstatter immer auch als Sparringspartner nutzt. So verdichten ihre Thesen zu Fischers Politik immer auch Eigenschaften seiner Person. Da ist Fischer, der Zauderer: „Fischer ist nicht Avantgarde, selbst wenn er das von sich behauptet. Die Liste seiner politischen Zögerlichkeiten, nennen wir sie Vorsicht, ist lang.“ Fischer, der nicht immer Leitwolf sein muss: „Die zweite Geige wird er in seinem Leben öfter spielen: zuerst hinter dem Jungpromi Cohn-Bendit, dann 1983 hinter Fraktionschef Otto Schily, seit 1998 schließlich hinter Bundeskanzler Gerhard Schröder.“ Fischer, der Machterotiker: „Bonn war nach Frankfurt Fischers zweite Eroberung.“ Und schließich Fischer, das Schaf im Wolfspelz: „Fischer pflegt den Gestus des Outsiders, um Insider zu werden.“
Geis und Ulrich haben Fischer politisch analysiert, aber sie haben ihn auch am eigenen Leib erlebt. Vielleicht sind sie darum empfindsamer gewesen als andere Beobachter für die körperliche Präsenz, die Fischer haben kann – und für die Präsenz des Körperlichen in seiner Politik. Ohne die Wucht des Körpers ist Joschka Fischer nicht zu verstehen – nicht als Mensch, nicht als Politiker, nicht als Straßenkämpfer, nicht als Außenpolitiker. Einen „Überwältigungspolitiker“ nennen die Autoren ihn – und erklären so viel von den Widersprüchen. Bis heute erlebe Fischer „Machterfahrung als Selbsterfahrung“. Die Linie vom Frankfurter Häuserkampf zu seinem Rostocker Plädoyer für den Afghanistankrieg ist gerader, als es manchmal scheint. „Dass in einer prägenden Phase seines Lebens politisch-intelektuelle und gewaltsame Auseinandersetzungen ineinander verwoben und für ihn Argumente wie Schläge Mittel der Selbstbehauptung waren, macht die Aura aus, die den Überwältigungspolitiker Fischer bis heute umgibt.“
In diesem Motiv führen die Autoren Beobachtung und Erlebnis am dichtesten zusammen – und beantworten die wesentliche, die heikle Frage nach Fischers Opportunismus.
„Fischer tut nichts, wovon er nicht überzeugt ist“, meinen Geis und Ulrich, „aber er ist von nichts wirklich überzeugt, was seine Macht gefährden könnte.“ Darum ist der Überwältigungspolitiker zunächst und immer ein Selbstüberwältiger. Niemand löst sich mit größeren Skrupeln von alten Überzeugungen, soll das heißen, niemand verficht danach die neuen Ansichten mit größerem Eifer. Niemand ist ein ehrlicherer Opportunist als Joschka Fischer.
Und die Verlierer? Die nicht mithalten können bei den immer neuen Fischer-Wenden? Die mehr suchen als die Selbsterfahrung der Macht? Geis und Ulrich haben auch damit ihre Erfahrungen gemacht. „Das eine oder andere Jahr ist ins Land gegangen, ohne dass wir ein Wort mit ihm gesprochen haben. Beide Seiten gingen auf Sicherheitsabstand, so lange, bis die Idealtemperatur zwischen dem Politiker und den Journalisten wieder hergestellt war: Kühle.“
Trotzdem scheinen noch 200 Seiten später Verletzungen auf: „Man kann ihn nicht gut behelligen mit seinen Privatproblemen, die langweilen ihn schnell.“ Auch im direkten Widerspruch, in der offenen Kritik bleiben Geis und Ulrich seltsam matt gegenüber dem Kraftpaket Fischer. „Globalisierung, Entwicklung, Gerechtigkeit, Umwelt und Gentechnik etwa könnten für den ‚einzigen grünen Außenminister des Planten‘ durchaus eine größere Rolle spielen“, heißt es äußerst milde.
Doch selbst da, wo das Buch schwach ist, ist es noch aufschlussreich. Selbst in den Momenten, in denen die Autoren ihrer Nähe zu Fischer erlegen sind, wo sie seine Sicht auf die Welt schlicht übernehmen, kann ihr Distanzverlust als Anschauungsmaterial für die zentrale These des Buches dienen: Ihnen ist nur widerfahren, was schon zähere, widerstrebendere, rebellischere Gegenüber im Leben von Joschka Fischer erfahren mussten – sie haben sich überwältigen lassen.
PATRIK SCHWARZ
Bernd Ulrich/Matthias Geis: „Der Unvollendete. Das Leben des Joschka Fischer“, 256 Seiten, Alexander Fest Verlag, Berlin 2002, 19,90 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen