: Das Näherrücken von Entferntem
Eine Dokumentation und ein Wettbewerb zum Thema Telematik fürchten den Verlust von Sinnlichkeit und Identität
Der Erfinder Daniel Düsentrieb weiß Rat. In dem Moment, in dem seine „Düsentaube“ – eine mechanische Brieftaube mit eingebauter Kamera – freigelassen wird, kehrt sie mit Ultraschallgeschwindigkeit zur Basis zurück und fotografiert im Flug alle Einzelheiten des Überfalls auf den Goldtransport. Die Panzerknacker haben das Nachsehen, und Dagobert Ducks Vermögen ist wieder in Sicherheit. Mit dieser Erfindung bestätigt Daniel Düsentrieb nicht nur die These Friedrich Kittlers vom medialen Missbrauch der Technik. Er hätte außerdem gute Chancen bei dem ersten deutschen Telematik-Wettbewerb gehabt, dessen Dokumentation jetzt erschienen ist und dessen Teilnehmer sich in ihren Beiträgen wohl hauptsächlich von „Raumschiff Enterprise“ und Daniel Düsentrieb haben inspirieren lassen. Der Beitrag „Dress Mode“ könnte direkt aus dem Fundus Düsentriebs kommen: Kleidungsstücke aus Display-Folie wechseln je nach Wunsch ihre Farbe, das Steuerelement ist ein Fingerhut. Da findet sich das Holodeck der Enterprise („Com°2°soon“), das räumlich getrennten Paaren eine gemeinsame Erlebniswelt generieren soll. Geräte zur medizinischen Diagnostik, der „TelePort 2010“ und die „Di-Uhr“, wurden direkt aus der Krankenstation der MS Enterprise zum Wettbewerb gebeamt. Andere vollkommen abwegige Beiträge sind von den Borg inspiriert, wie der „Mind Cluster“, der die Möglichkeit bietet, „Informationen direkt von Gehirn zu Gehirn zu übertragen“, um das kollektive Gedächtnis zu implementieren. Tolle Idee! Wie funktioniert das? Steht leider nicht da.
Oder aber man versucht Kulturtechniken, die man endlich überwunden glaubte, mittels telematischer Technologie in das neue Jahrtausend zu retten. So ging der erste Preis an „P.E.N“, einen Stift, der der „jungen Bevölkerung“ den vom Aussterben bedrohten handschriftlichen Duktus wieder näher bringen soll. Diesem „Duktusverlust“ müsse dringend Einhalt geboten werden mittels einer „innovativen Initiative“. Warum eigentlich?
Nicht nur die Wettbewerbsbeiträge, sondern auch die Entscheidungen der Jury durchzieht die Furcht vor dem Verlust von Sinnlichkeit und menschlicher Identität. Tatsächlich prognostiziert die technologische Entwicklung den fortschreitenden Zusammenfall von Raum und Zeit. Denn bei der Telematik geht es laut Villém Flusser um eine Technik zum „selbst bewegten Näherrücken von Entferntem“. Räumliche und zeitliche Distanzierung und damit auch die Identitätsfindung des einzelnen Subjekts werden schwieriger, wenn alles überall und sofort verfügbar ist. Der Standpunkt geht verloren. Peter Weibel sieht das Entstehen einer „nomadischen Identität“ als eine positive Entwicklung und Möglichkeit. Ursprung, Natur und Ontologie können in der telematischen Gesellschaft die Identität nicht mehr legitimieren, so konstruiert sich das „postmoderne Subjekt“ im Rahmen der gesellschaftlich angebotenen Optionen. Der lesenswerte Text von Christoph Asendorf sieht darin eher die Herausforderung, den Wunsch nach Entgrenzung und der Verschmelzung mit dem globalen Dorf immer wieder gegen die „Distanzierungsmechanismen als Voraussetzung jeder zivilisatorischen Ordnung“ neu auszuloten. Die Sehnsucht nach der Wahrung räumlicher und zeitlicher Distanz als einer „Voraussetzung für vernünftiges und selbstbestimmtes Handeln“ birgt eben die Gefahr der Erstarrung. Dieser Gefahr, die sich anhand der Forderung nach moralischen und gesellschaftlichen Werten manifestiert, widmet sich der Text von Norbert Bolz über die Fernethik, der in dem Ruf nach Moral die Weigerung erkennt, umzudenken und hinzuzuzulernen. Er erkennt in der Freiheit den Wert, der durch die Forderung nach Werten gefährdet wird.
Angesichts des großen qualitativen Unterschieds der Text- und der Wettbewerbsbeiträge stellt sich generell die Frage, ob es sinnvoll ist, Künstlern die technologische Kompetenz der Entwicklung telematischer Medien zuzumuten. Aber vielleicht findet die menschelnde Technologie der Beiträge selbst ihre eigenen Anwendungsgebiete, so wie Daniel Düsentriebs „Düsentaube“ ursprünglich nicht dafür gedacht war, das Vermögen von Dabogert Duck zu mehren. Es stellt sich dann nur die Frage, wer in diesem Szenario die Stelle von Dagobert Duck und wer die der Panzerknacker einnimmt. Es kann ja kein Zufall sein, dass das Wort Telematik das erste Mal 1978 von zwei Finanzinspektoren in Frankreich benutzt wurde, die die sozialen und ökonomischen Folgen der Informationstechnologie untersuchten. Jedenfalls hat sich die Telematics Pro e. V. Berlin entschieden, zukünftig einen „international ausgeschriebenen Deutschen Telematik Wettbewerb“ zu verleihen und wird dafür wieder viele Düsentriebs um deren Hilfe bitten.
CONRAD BECKMANN
Jeannot Simmen (Hg.): „Telematik. NetzModerneNavigatoren“. Verlags-Buchhandlung Walter König, Köln 2002, 112 Seiten, 20 €
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen